Je nachdem, von welchem Glaubenssatz oder biblischem Thema die christliche Ethik ihren Ausgang nimmt, wird sie sich verschieden gestalten. Sie kann orientiert sein an (1.) Schöpfungstheologie, (2.) Schöpfungsordnungen, (3.) Gottebenbildlichkeit, (4.) Gesetz des Alten Testamentes, (5.) Goldenen Regel, (6.) Bergpredigt, (7.) Nachfolge, (8.) Liebe, (9.) Rechtfertigung, (10.) Menschwerdung, (11.) Eschatologie, (12.) Askese, (13.) „WWJD?“. Jeder dieser ethischen Ansätze hat seine Stärken und Schwächen. Einen echten Gegensatz gibt zwischen ihnen aber nicht.

Ansätze christlicher Ethik

Wie lebt man Gott entsprechend?


Schöpfungstheologischer Ansatz


Gott stattet seine Geschöpfe mit einer Vielzahl von Gaben aus. Er gibt ihnen einen gesunden Körper und einen klaren Verstand, er gibt ihnen Lebenszeit und Lebensraum auf Erden, er setzt sie in den herrlichen „Garten“ seiner Schöpfung, fügt sie ein in die Gemeinschaft einer Familie und versorgt sie mittels der Natur mit allem, dessen sie bedürfen. Wer darin die göttliche Fürsorge erkennt, und dankbar ist für die Potentiale, Talente und Chancen, die ihm anvertraut werden (obwohl er keinerlei Anspruch darauf hat!), weiß sich verantwortlich, mit den „anvertrauten Pfunden“ kräftig zu „wuchern“ und von den verliehenen Gaben einen guten Gebrauch zu machen. Er wird sich fragen, wozu ihn Gott so ausgestattet hat, und wird bestrebt sein, seine persönlichen Chancen und Möglichkeiten nicht einfach nach Gutdünken zu nutzen, sondern im Sinne dessen, der sie ihm eröffnet hat. Dieser Mensch sieht sich als Gast in Gottes Garten – und benimmt sich darum auch wie ein Gast und nicht wie ein Eigentümer. Wie ein Gutsverwalter, der weiß, dass er seinem Herrn Rechenschaft schuldet, bemüht er sich um gute Haushalterschaft. Er zeigt Ehrfurcht vor dem Leben, das Gott geschaffen hat. Und er behandelt alle Kreaturen als Schwestern und Brüder, weil sie denselben himmlischen „Vater“ haben.


Ansatz bei den Schöpfungsordnungen


Wer glaubt, geht davon aus, dass er sein persönliches Dasein und seine Lebenssituation nicht einem blinden Schicksal verdankt, sondern dem vorsehenden Handeln Gottes. Ein Mensch wird nicht zufällig irgendwo und irgendwann ins Leben hineingeworfen, sondern bekommt von seinem Schöpfer – der sich etwas dabei denkt! – einen ganz bestimmten historischen, geographischen, kulturellen und familiären Ort angewiesen. Es ist keiner grundlos dort, wo er ist, sondern ein jeder wird durch seine Geburt in seine Zeit, seinen Raum und seine gesellschaftlichen Situation „platziert“, um dort mit seinen ganz eigenen Begabungen seine spezielle Aufgabe in Gottes Plan zu erfüllen. Welche Aufgabe das ist, muss jeder im Laufe seines Lebens herausfinden. Doch die dem Menschen vorgegebene „Verortung“, kann als Anhaltspunkt dienen – und als Aufforderung, den Posten, auf den Gott den Menschen gestellt hat, gut und treu auszufüllen. Es gilt, die zugewiesene Rolle ohne Murren zu übernehmen als einen „Gottesdienst“ im beruflichen und familiären Alltag. Wer herrscht, soll das mit Sorgfalt tun, wie auch der, der dient, mit Sorgfalt dienen soll. Und wer Kinder hat, soll aus der Verantwortung für diese Kinder genau so wenig fliehen, wie die Kinder aus der Verantwortung für ihre Eltern. Denn nicht darauf kommt es an, dass man Landwirt ist oder Industriearbeiter, Ehemann oder Witwer, Lehrer oder Schüler, Befehlshaber oder Befehlsempfänger – sondern dass man dort, wo Gott einen hingestellt hat, sein Bestes tut. Statt einem erträumten Leben nachzujagen, das Gott offenkundig nicht geben will, gilt es das reale Leben anzupacken, das er zugemutet und aufgetragen hat (vgl. die „Haustafeln“ Eph 5,21ff. / Kol 3,18ff. / 1. Petr 2,16ff.).


Ansatz bei der Gottesebenbildlichkeit


Der Schöpfungsbericht sagt, dass Gott den Menschen „zu seinem Bilde“ schuf. Nur: Was soll das besagen? Wenn wir unterstellen, ein Ebenbild müsste dem Vorbild gleichen wie ein Ei dem anderen, führt das zu absurden Konsequenzen. Denn sollten wir Gott in dieser Weise „ähneln“, so müssten aus Menschen Götter werden. Doch kann man den Begriff „Ebenbild Gottes“ anders und besser verstehen, wenn man an den Abdruck denkt, den ein Siegel in heißem Siegelwachs hinterlässt. Der Abdruck im weichen Wachs ist ein genaues „Ebenbild“ des Siegels. Und doch entsprechen den Vertiefungen im Siegel nicht etwa Vertiefungen im Wachs, sondern Erhöhungen. Und den Erhöhungen im Siegel entsprechen im Wachs nicht Erhöhungen, sondern Vertiefungen. Genau so kann auch das Verhältnis Gottes und des Menschen beschrieben werden, wenn es „in Ordnung“ ist: Gottes Allmacht entsprechen wir, wenn wir nicht versuchen unser selbst mächtig zu sein. Und Gottes Ewigkeit entsprechen wir, wenn wir unsere eigene Endlichkeit annehmen. Gottes Barmherzigkeit entsprechen wir, indem wir darauf vertrauen. Und Gottes Gebieten entsprechen wir, indem wir gehorchen. Wo Gott ruft, da sollen wir antworten. Wo er Zusagen gibt, sollen wir ihnen glauben. Und wo er spricht, sollen wir zuhören. Wo er uns beschenkt mit dem täglichen Brot, da sollen wir’s mit Dank empfangen. Und wo uns seine Gebote warnen, da sollen wir die Finger davon lassen. Wo Gott uns Grenzen setzt, da sollen wir sie akzeptieren. Und wo er uns einlädt fröhlich und sorglos zu sein – da sollen wir uns nicht bitten lassen. Seiner Liebe entsprechen wir, indem wir sie weitergeben. Und sein Zorn spiegelt sich in unserer Buße. Gottes Treue entspricht unser Bekenntnis. Und aus seinen Verheißungen speist sich unsere Hoffnung. Gott in dieser Weise (nicht zu gleichen, sondern) zu entsprechen, ist die Bestimmung, die Gott dem Menschen gab. Dass der Mensch (im Zustand der Sünde) diese Bestimmung mit Füßen treten und verleugnen kann, sie aber als (Ziel–)Bestimmung dennoch nicht verliert, macht seine Menschenwürde aus.


Ansatz beim Gesetz des Alten Testamentes


Wer nach ethischen Normen sucht, kommt an den Geboten des Alten Testamentes nicht vorbei. Denn sie sind Gottes „Gebrauchsanweisung“ und „Hausordnung“ für seine Schöpfung. Die Welt ist Gottes Eigentum. Und darum kann auch nur er als Hausherr und Eigentümer die Regeln festlegen, die auf seinem Grund und Boden gelten sollen. Gott liebt und bejaht seine Schöpfung! Er will, dass sie bleibt. Und er unterwirft sie (eben deshalb) gewissen Regeln, die nötig sind, um das Geschaffenen zu schützen und gesund zu erhalten, das Gute zu fördern und dem Bösen Einhalt zu gebieten. Gottes Gebote sollen verhindern, dass die Geschöpfe sich selbst oder anderen Schaden zufügen. Sie dienen dem Leben – und sind darum ein praktisches Geländer, an dem man sich festhalten kann, wenn der Fuß abzugleiten droht. Sie sind Warnschilder, die uns auf Gefahrenstellen aufmerksam machen. Und sie sind Leuchtfeuer, die uns sicher nach Hause geleiten. Wir sollen nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht lügen, nicht neidisch und nicht gierig sein. Wir sollen aber die Eltern ehren, sollen den Feiertag und den Namen Gottes heilig halten – und sollen vor allem nichts Irdisches an Gottes Stelle treten lassen. Natürlich lässt sich mit noch so vielen Geboten nicht jede erdenkliche Lebenssituation im Voraus klären. Man kann den Buchstaben des Gesetzes immer gegen seine Intention ausspielen. Und man kann die Gebote missbrauchen, um sich (den Pharisäern gleich) hinter der eigenen „Gerechtigkeit“ zu verschanzen. Trotzdem sind die Gebote kostbar und hilfreich. Denn wenn dem Menschen nicht offenbart wäre, was gut ist, würde er es von selbst nicht erkennen und den Willen Gottes nicht erraten: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ ( Mi 6,8 )


Ansatz bei der Goldenen Regel


Jesus hat sich bemüht, seinen Jüngern einfache Maßstäbe an die Hand zu geben. Darum lehrte er sie die „Goldene Regel“: „...wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!“ (Lk 6,31). Diese Regel ist schnell gelernt. Und sie ersetzt viele dicke Gesetzbücher. Denn da braucht einer, der Gutes tun will, nicht lange nach einer passenden biblischen Anweisung zu suchen, sondern kann sich darauf beschränken, die eigene Seele zu studieren. Er muss sich nur fragen: Wenn ich in der Lage dieses oder jenes Menschen wäre, was würde ich wollen, dass man mir tut? Wäre ich mein Nachbar, wäre ich dieser oder jener, welche Hilfe würde ich mir wünschen? Und schon weiß er, was zu tun ist! Allerdings muss beachtet werden, dass es sich nicht um einen eigennützigen Grundsatz handelt. Die Regel „...wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!“ meint etwas völlig anderes, als „Eine Hand wäscht die andere“. Auf den ersten Blick scheint Jesu Wort zwar mit der landläufigen Weisheit übereinzustimmen: Bist du nett zu deinem Nachbarn, so wird er auch nett sein zu dir. Man verfährt nach dem Grundsatz „wie du mir, so ich dir“ und beiden ist geholfen. Jesus geht es aber gerade nicht um solche Geschäfte zum gegenseitigen Nutzen. Denn es stimmt zwar: „Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus“. Aber wenn einer nur darum anderen Gutes tut, damit sie ihm wiederum Gutes tun, ist das nicht christliche Ethik, sondern nur Lebensklugheit und Berechnung. Nicht der tut wahrhaft Gutes, der es um seines Vorteiles willen tut, sondern der dabei von seinem eigenen Vor– oder Nachteil ganz absieht. Darum sagt Jesus nicht: „...wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, so tut zuerst ihnen, damit sie sich verpflichtet fühlen, euch Gutes zu erwidern.“ Er sagt auch nicht „Was euch die Leute tun, das tut ihnen auch“. Das würde ja nur bedeuten, Gutes wie Böses mit gleicher Münze heimzuzahlen! Vielmehr ermahnt uns Jesus, den anderen zu tun, was wir wollten, das man uns täte – und zwar unabhängig davon, ob es wirklich geschieht. Wir sollen also helfen, auch wenn uns keiner hilft. Wir sollen die Wahrheit sagen, auch wenn die anderen uns belügen. Und wir sollen segnen, auch wenn die anderen uns verfluchen. Denn die Freunde zu lieben und die Feinde zu hassen ist kein Kunststück!


Ansatz bei der Bergpredigt


Man hat die Bergpredigt als „Regierungserklärung Jesu“ bezeichnet. Denn in ihr konzentriert sich die Lehre Jesu, die in der Radikalität ihrer ethischen Forderungen weit über die alttestamentlichen Gebote hinausgeht. Jesus gibt Weisungen im Vorgriff auf die endzeitliche Erneuerung des Gottesverhältnisses im Reich Gottes. Nicht erst das Töten gilt ihm als Verbrechen, sondern schon das Zürnen und das Schimpfen. Nicht erst das Fremdgehen gilt ihm als Ehebruch, sondern schon das begehrliche Anschauen einer Frau. Nicht nur das falsche Schwören oder den Bruch eines Schwures lehnt er ab, sondern das Schwören überhaupt. Statt Unrecht zu rächen, soll man es erdulden, und zu dem unrecht geforderten Rock auch noch den Mantel dazugeben. Statt des Freundes soll man den Feind lieben, für die Verfolger bitten und die Fluchenden segnen. Die Reinheit, die Jesus fordert, ist nicht nur die Reinheit der Hände, die das Böse nicht tun, sondern die Reinheit des Herzens, das das Böse gar nicht erst will. Seine Jünger sollen nicht bloß dem Buchstaben des Gesetzes folgen, sondern sich seine Intention zu eigen machen. Und wenn irgendeines ihrer Glieder sie daran hindert, so sollen sie es abhauen und von sich werfen. Ja, Jesus vollzieht eine Radikalisierung, Verinnerlichung und Steigerung des von Gott Gebotenen, die sich um die Grenzen des Menschenmöglichen anscheinend nicht kümmert. Er sieht auch ganz klar, dass die Mehrheit seinem Weg nicht folgen wird, lässt sich davon aber keineswegs beirren: „Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind's, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind's, die ihn finden!“ ( Mt 7,13–14 )


Ansatz bei der Nachfolge


Worin „Nachfolge“ besteht, war zur Zeit Jesu leicht zu verstehen. Denn Jesus zog über die Dörfer Galiläas. Er blieb mal hier und mal da. Bald aber wanderte er weiter. Und wer den Kontakt nicht verlieren wollte, der musste eben „nachfolgen“. Hatte ihn die Botschaft Jesu so sehr gepackt, dass er unbedingt in der Nähe dieses Mannes bleiben wollte, so musste er Haus und Hof zurücklassen und das unstete Leben des Meisters teilen. „Nachfolge“ hieß darum: Ruhen, wenn Jesus ruht, wandern, wenn Jesus wandert, hinter sich lassen, was Jesus hinter sich lässt, und suchen, was er sucht. Obwohl uns 2000 Jahre vom Erdenleben Jesu trennen, ist Jüngerschaft auch heute noch Schicksalsgemeinschaft mit Christus. Nachfolge besteht immer noch darin, den Weg Jesu mitzugehen. Nur teilen wir mit ihm nicht mehr die staubigen Straßen Galiläas, sondern etwas anderes: Wer heute durch die Taufe in die Schicksalsgemeinschaft eintritt mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen, für den bedeutet das, dass er teilhaben wird am Kreuz Christi und teilhaben wird an der Auferstehung Christi. Er bekommt etwas zu leiden, wie sein Herr zu leiden hatte. Und er bekommt am Ende etwas zu jubeln, wie Christus am Ende zu jubeln hatte. Nicht mehr und nicht weniger bekommt ein Christ als das Kreuz und den Sieg. Und eines bekommt er nicht ohne das andere. Denn was an ihm der „alte Adam“ ist, muss gekreuzigt werden und sterben. Was aber an ihm ein „neuer Mensch“ ist, soll wachsen und leben. Dass dies auch ethische Konsequenzen hat, liegt auf der Hand: „Wie sollten wir in der Sünde leben wollen, der wir doch gestorben sind? Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. ... Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden, und wissen, dass Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht stirbt; der Tod kann hinfort über ihn nicht herrschen. Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben ein für allemal; was er aber lebt, das lebt er Gott. So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid und lebt Gott in Christus Jesus. So lasst nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, und leistet seinen Begierden keinen Gehorsam. Auch gebt nicht der Sünde eure Glieder hin als Waffen der Ungerechtigkeit, sondern gebt euch selbst Gott hin, als solche, die tot waren und nun lebendig sind, und eure Glieder Gott als Waffen der Gerechtigkeit.“ ( Röm 6,2–13 )


Ansatz bei der empfangenen Liebe


Die Grunderfahrung des Christen ist, dass sich Gottes große Liebe gegen seinen berechtigten Zorn durchsetzt und den Sünder um Christi willen gerecht spricht. Der Christ weiß sich überschüttet mit Strömen unverdienter Liebe, durch die Gott ihn bejaht, annimmt und rettet. Wie aber könnte er von einer so großen Welle göttlicher Zuwendung getroffen werden, ohne dadurch selbst in Bewegung zu geraten? Wie könnte er soviel Liebe empfangen, ohne etwas davon an andere Menschen weiterzugeben? Wie könnte er nicht mitgerissen werden von der Welle der Liebe, mit der Gott sich seinen Geschöpfen zuwendet? Als einer, der sich in Gottes Liebe hinein gerettet weiß, trägt der Christ diese Liebe weiter. Er will, was Gott will, und partizipiert darum an Gottes großer missionarischer und diakonischer Initiative, die ihn selbst hilfreich verwandelt hat – und auch den Rest der Welt noch hilfreich verwandeln will. Was wäre da absurder, als das Verhalten des „Schalksknechtes“ (Mt 18,21ff.), dem viel vergeben wird, und der doch seinerseits nicht bereit ist zu vergeben? Wie kann einer, dem so viel Barmherzigkeit widerfährt, nicht seinerseits barmherzig sein? Das Gegenteil ist zu erwarten! Denn mit wem Christus geduldig ist, der soll auch mit seinem Nächsten geduldig sein. Wen Christus nicht verurteilt hat, der soll auch seinen Nächsten nicht richten. Wer durstig war und zur Quelle fand, sollte nun nichts Eiligeres zu tun haben, als andere Dürstende zum Wasser des Lebens zu führen. „Einer von ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und fragte: Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus aber antwortete ihm: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ ( Mt 22,35–40 )


Ansatz bei der Rechtfertigung


Was ist das Haupthindernis, das den Menschen davon abhält, Gutes zu tun? Es ist nicht etwa eine bewusste Entscheidung für das Böse. Sondern es ist die beständige Sorge, mit der Menschen um sich selber kreisen, das „Ihre“ suchen und sich behaupten wollen. Ein jeder denkt dabei an sich und nimmt den anderen Menschen nur so weit in den Blick, wie er als Mittel zum Zweck dem eigenen Interesse dienen kann. Dies egozentrische Streben zur Selbstbehauptung gegen Gott und Welt will keineswegs „böse“ sein. Und doch sorgt die dahinter stehende Angst dafür, dass das Herz eines solchen Menschen (auch und gerade bei seinen vermeintlich „guten“ Taten!) nicht wirklich beim Mitmenschen, sondern ganz bei sich selbst ist. Wer aber alles (direkt oder indirekt) für sich selbst tut – tut der jemals etwas Gutes? Das Streben nach Selbstsorge und Selbsterlösung hält den Menschen restlos gefangen. Es macht „selbstloses“ Handeln unmöglich. Und dieser Bann wird erst durchbrochen, wenn ein Mensch im Glauben seiner Angst entledigt wird. Wird er um Christi willen gerechtfertigt und von aller Schuld freigesprochen, so hat Christus für ihn geleistet, was er selbst nicht vermocht hätte. Weil Gott für sein Heil sorgte, ist dem Menschen die Last der Sorge genommen. Weil Christi Verdienst ihm angerechnet wird, muss er nicht mehr nach verdienstvollen Werken streben. Eben dadurch aber wird er frei, wahrhaft „gute Werke“ zu tun, weil er es nun nicht mehr auf das eigene Heil, sondern auf das Wohl seines Nächsten abgesehen hat. Es ist nicht mehr Angst, die ihn motiviert. Es ist nicht mehr Sorge, die ihn treibt. Seine Interessen sind in Christi Händen gut aufgehoben. Und eben deshalb kann der Gerechtfertigte mit ungeteiltem Herzen bei dem Mitmenschen sein, der ihn gerade braucht. Er muss für sein Seelenheil nichts mehr tun und hat genau darum die Hände und den Kopf frei, um dem Nächsten zu dienen – aus purer Dankbarkeit. Denn er kann sagen: „Ich möchte gern so sein, wie Gott mich haben will, weil er mich so behandelt, als wäre ich schon so.“ ( H. Frank )


Ansatz bei der Menschwerdung


Jesus Christus, der menschgewordene Sohn Gottes, hat sich den Armen, Kranken und Verachteten in besonderer Weise zugewandt, ja er ist selbst einer der „Mühseligen und Beladenen“ geworden. Auch in Mt 25 identifiziert er sich mit den Rechtlosen und Ausgestoßenen, so dass ein Christ damit rechnen kann, dass ihm in der Gestalt bedürftiger Mitmenschen Christus selbst gegenübertritt. Er weint mit den Weinenden und leidet mit den Leidenden. Dass das aber ethische Konsequenzen hat, liegt auf der Hand: „Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich auf-genommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ ( Mt 25,31–40 )


Eschatologischer Ansatz


Die gesamte Verkündigung Jesu hat ihre Mitte im kommenden Reich Gottes, das in der Person Jesu anbricht. Die gegenwärtige Herrschaft Satans ist darum für Jesus ein vergehendes Zeitalter, die Zukunft wird ganz dem Reich Gottes gehören, und die Gegenwart birgt für seine Jünger die Herausforderung, schon jetzt im Lichte des kommenden Tages zu leben. Durch den Glauben „neu geboren“ sind sie doch schon „neue Menschen“! Wie können sie da leben als wären sie noch unter der Sünde? Sie sind von Christus zur Freiheit berufen! Wie können sie da leben als trügen sie noch Fesseln? Satan ist entmachtet! Wie kann man ihm da noch gehorchen? Die Welt befindet sich für Jesus im unmittelbaren Übergang. Von seinen Jüngern aber fordert er, nicht mehr nach den Regeln der vergehenden Welt zu leben, sondern schon nach den Regeln der kommenden. Jesus preist alle „selig“, die jetzt schon in großer Sehnsucht auf das vorgreifen, was Gottes Reich bringt. Denn mit den Füßen noch auf der alten Erde lebend sind sie doch mit dem Herzen schon in Gottes kommender Welt und nehmen auch in ihrem Handeln vorweg, was dort gelten wird. Sie scheinen dadurch „welt - fremd“. Aber genau das ist ihre Stärke: Sie versagen dem Alten die Unterwerfung und machen ihr Bürgerrecht geltend im Reich Gottes. Um der Tugenden willen, die daraus entspringen, rechnet Jesus sie zu den Gewinnern, denen er das Heil zuspricht: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen. Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.“ ( Mt 5,1–12 )


Asketischer Ansatz


Der asketische Ansatz christlicher Ethik stützt sich auf die Einsicht, dass die Liebe zur Welt, zum Geld, zur Macht und zum irdischen Glück immer in Konkurrenz gerät mit der Liebe zu Gott. Die Hinwendung zu Gott kann oft nur vollzogen werden als Abkehr von der Welt, denn wer von der Welt, ihren Zwängen, ihren Reizen, und ihren Gesetzmäßigkeiten nicht frei wird, wird nicht frei sein für Gott. Niemand kann zwei Herren dienen. Niemand kann dem Ruf in die Jüngerschaft mit halbem Herzen folgen. Darum hat die Ethik der Askese als einer Loslösung von falschen Bindungen immer einen Ort im Christentum gehabt. Mit den Worten Jesu gesagt: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.“ ( Mt 10,36–39 ) Der Christ soll Besitztümer und Beziehungen haben „als hätte er sie nicht“, und soll ihnen gegenüber stets innere Freiheit wahren. Die Leidenschaften des alten Adam müssen absterben, wenn der neue Mensch wachsen soll. Und daher haben das Fasten, das Verzichten, die Enthaltsamkeit, die Keuschheit, die Heiligung und der Weg in die Einsamkeit in der Ethik des Christentums stets eine wichtige ( gegenwärtig sehr vernachlässigte ) Rolle gespielt. „Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters. Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.“ ( 1.Joh 2,15–17 )


Ansatz „What would Jesus do?“


Was würde Jesus tun? Die Frage ist gemeint als Handlungsanweisung für alle Lebenslagen: Du bist in einer schwierigen Situation? Du musst Entscheidungen treffen? Dann frage dich, was Jesus in diesem Moment tun würde. Und wenn du weißt, was er täte, dann mache es genau so. Folge seinem Beispiel, denn wenn du handelst, wie Jesus handeln würde, dann kannst du damit nicht falsch liegen! Man muss zugeben: Das ist auf den ersten Blick ein verblüffend einfaches und einleuchtendes Verfahren, um Entscheidungen herbeizuführen. Denn wer wäre ein besseres Vorbild als Jesus? Wenn Gottes Sohn zwischen „gut“ und „böse“ unterscheidet, dann irrt er sich nicht. Und wer sich konsequent in seinen Fußspuren bewegt – wer handelt, denkt und redet, wie Jesus handeln, denken und reden würde –, der kann dabei nicht fehlgehen. Die Frage „Was würde Jesus tun?“ müsste uns also immer auf die richtige Spur führen. Doch gilt das nur, wenn wir die Frage auch zuverlässig beantworten können. Und das ist der Haken an der Sache. Denn die Faustregel „Tue, was Jesus jetzt tun würde“ hilft nur weiter, wenn es mir gelingt, die Gestalt Jesu über die Jahrhunderte hinweg in meine eigene Situation hinein zu versetzen. Und das ist nicht so einfach. Um diesen gedanklichen „Transfer“ hinzubekommen, muss man Jesus sehr gut kennen. Man muss in den Evangelien so weit bewandert sein, dass man „auswendig“ weiß, auf welche Gegebenheiten Jesus wie reagiert hat. Man muss seine Motive und Beweggründe verstehen. Und man muss die Unterschiede in den kulturellen Rahmenbedingungen einkalkulieren. Es kommt aber noch ein zweites Problem hinzu. Denn wenn ich mir vornehme, zu tun „was Jesus tun würde“, berücksichtige ich nicht, dass zwischen ihm und mir gravierende Unterschiede bestehen. Und ob man die so einfach ignorieren darf, ist zumindest zweifelhaft: Kann ich, will ich, soll ich tun „was Jesus täte“ – wenn ich doch nicht Jesus bin? Fehlen mir dazu nicht die Voraussetzungen? Sind seine Schuhe nicht zu groß, als das wir darin laufen könnten? Ich empfehle darum, den Grundgedanken des W.W.J.D. in etwas bescheidenerer Form zu übernehmen: Die allzu hypothetische Frage, was Jesus in meiner Lage tun würde, lässt sich übersetzen in die Frage, mit welcher Grundhaltung Jesus seinen Zeitgenossen begegnet ist. Und wenn sich zeigt, dass diese Grundhaltung gleichermaßen von großem Ernst und von großer Milde bestimmt war (Jesus sah die Menschen immer zugleich als die verlorenen Sünder, die sie waren, und als die Kinder Gottes, die sie werden sollten), dann kann man versuchen, aus der gleichen Grundhaltung heraus zu handeln. Und was ist mit der Forderung, stets zu tun, was Jesus täte? Wer es anmaßend findet, Jesus zu kopieren, der kann diese Forderung in einen etwas bescheideneren Appell übersetzen: Man tue immer nur das, was man guten Gewissens unter Jesu Augen tun kann!