Warum Gott Mensch wurde und am Kreuz starb? (1.) bestand die Notwendigkeit der Erlösung, um Gottes Plan zum Ziel zu führen. Und (2.) konnte die Erlösung nicht stattfinden, ohne dass eine entsprechende Sühne vorausging. (3.) vermochte niemand diese Sühne zu leisten außer Gott. Und (4.) sollte niemand die Sühne leisten außer dem Menschen, der den Schaden verursacht hat. Daraus folgt aber unausweichlich (5.), dass derjenige, der die Sühne wirklich leistet, Gott und Mensch zugleich sein muss (freie Bearbeitung eines Werkes des Anselm v. Canterbury).
Wäre Versöhnung ohne das Kreuz möglich gewesen?
( Es handelt sich hier um eine freie Bearbeitung des berühmten Werkes „Cur deus homo“ des Anselm von Canterbury (gest. 1109). Die Bearbeitung zitiert an vielen Stellen das Original, der Gedankengang wurde aber erheblich gekürzt und vereinfacht. Wer sich eingehender mit Anselms Theologie beschäftigen will, muss also das Original lesen! )
BOSO: Hallo Anselm.
ANSELM: Grüß dich, Boso. Warum schaust du denn so traurig?
BOSO: Ach, Anselm, ich bin traurig, weil so viele Menschen unseren Glauben nicht verstehen. Sie spotten darüber, dass Gott Mensch wurde und am Kreuz starb. Sie finden das ganz lächerlich und meinen, es passe schlecht zur Würde und zur Größe eines allmächtigen Gottes, als Säugling geboren zu werden, Milch zu trinken und Windeln zu brauchen. Was ist das für ein armseliger Gott, sagen sie, der Erschöpfung und Versuchung kennt, Hunger, Durst und Leid, der sich foltern lässt – und am Ende auch noch zwischen Verbrechern gekreuzigt wird?
ANSELM: Aber, Boso, wissen die denn nicht, dass eben dieser Weg der Menschwerdung notwendig war, um die Menschheit zu erlösen?
BOSO: Nein, nein. Sie sagen, ein allmächtiger Gott hätte das Problem mit der Sünde auch anders lösen können. Er hätte z.B. einen Engel damit beauftragen können oder irgendeinen Propheten, statt selbst in der Gestalt Christi diesen mühseligen Weg zu gehen.
ANSELM: Aber begreifst du denn nicht, dass in diesem Falle, wenn irgendeine andere Person den Menschen losgekauft und erlöst hätte, alle Menschen dieser Person ihr Leben verdankten und künftig dieser Person ihre Hingabe schuldeten? Rettete sie nicht Gott, sondern ein anderer, so wären die Menschen diesem anderen Gefolgschaft schuldig und wären ihm verpflichtet. Jenes Geschöpf hätte dann mehr Anspruch auf den Menschen als der Schöpfer. Und das kann Gott nicht wollen.
BOSO: Aber warum muss es denn überhaupt einen Erlöser geben? Würde es nicht genügen, wenn Gott einfach bei sich beschlösse, die Sünde der Menschen nicht zu strafen, und die Menschheit dann von Sünden frei wäre mit einem Federstrich? Warum spricht Gott nicht einfach ein Machtwort, um uns von Hölle, Tod und Teufel loszumachen? Ihm ist doch alles unterworfen! Warum entscheidet er nicht ein für allemal, dass allen alles vergeben ist? Das wäre doch für ihn – und für uns – viel einfacher!
ANSELM: Ach, Boso – mir scheint, dass wir mit diesem Thema ganz von vorne beginnen müssen, damit du einsiehst, dass es nicht nur tatsächlich so geschah, wie es die Evangelien berichten, sondern dass es auch nach Einsicht der Vernunft so und nicht anders geschehen musste. Beginnen wir also ganz am Anfang: Bist du mit mir einer Meinung, dass der Mensch von Gott zur Seligkeit geschaffen wurde – nämlich zur ewigen Gemeinschaft mit Gott in Gottes Reich?
BOSO: Aber ja.
ANSELM: Und weißt du auch, dass zu dieser seligen Gemeinschaft mit Gott niemand taugt, der sich durch Sünde von Gott entfernt hat?
BOSO: Ja, leider ist das so. Ich kenne auch keinen einzigen Menschen, der von Sünde frei wäre.
ANSELM: Die Vergebung der Sünden ist somit für den Menschen notwendig, wenn er zur Seligkeit gelangen und das Ziel seines Daseins erreichen will?
BOSO: Daran halten alle Christen fest.
ANSELM: Die Frage ist also nun, auf welche Weise Gott den Menschen die Sünde nachlässt. Um dabei aber sicher zu gehen, wollen wir zuerst klären, was es heißt zu sündigen, und was es heißt, für die Sünden Genugtuung zu leisten. Sag’, Boso: Wenn der Mensch Gott stets gäbe, was ihm gebührt an Ehrerbietung, Liebe und Gehorsam, so würde er doch niemals sündigen?
BOSO: Da hast du Recht.
ANSELM: Dann ist also Sündigen nichts anderes, als Gott das Schuldige vorenthalten?
BOSO: Ja gewiss. Was aber ist das Schuldige, das wir Gott schulden?
ANSELM: Na – was wir eben genannt haben: Ehrfurcht, Liebe und Gehorsam! Eigentlich sollte der gesamte Wille des Menschen mit dem guten Willen Gottes einig sein und ihm folgen. Das ist sozusagen der gebührende Dank, den wir Gott schulden, weil er uns geschaffen hat, und durch den alle Sünde vermieden würde. Doch ein jeder, der den schuldigen Gehorsam verweigert, sündigt, weil er Gott nicht ehrt und nicht das Gute tut, das Gott gefällt. Er raubt Gott, was Gott zusteht, und solange er das Geraubte nicht erstattet, lastet Schuld auf ihm.
BOSO: Das ist wohl leider so.
ANSELM: Wenn der Mensch sich aber eines Tages eines Besseren besinnt, meinst du dann, dass er einfach nur zum Gehorsam und zum Tun des Guten zurückkehren muss? Meinst du nicht, dass er Gott eine Art Wiedergutmachung schuldet für die zurückliegenden Verfehlungen – eine Art Schmerzensgeld und Sühne?
BOSO: Aber sicher: Wer fremde Ehre angegriffen und verletzt hat, muss sie nicht nur wieder herstellen, sondern zugleich Genugtuung hinzufügen. Um die Sache wieder in Ordnung zu bringen, muss man dem Geschädigten mehr erstatten als nur das Normale, das ihm ohnehin zusteht. Man muss versuchen, seine Respektlosigkeit wieder gut zu machen.
ANSELM: So muss demnach jeder, der sündigt, die geraubte Ehre Gott zurückgeben; und hierin besteht die Genugtuung, die ein Sünder Gott zu leisten hat, wenn er sich mit Gott aussöhnen will.
BOSO: Du hast Recht, Anselm. Aber könnte Gott nicht einfach darauf verzichten und sagen „Schwamm drüber!“?
ANSELM: Stell dir vor, was das bedeuten würde, lieber Boso! Auf diese Weise Sünden nachzulassen, ohne Sühne oder Wiedergutmachung, hieße doch einfach nur, die Sünde nicht zu strafen und das geschehene Böse zu ignorieren – gerade als wäre nichts gewesen. Wo aber bliebe da die Gerechtigkeit Gottes? Es geht doch nicht an, dass er über eine schwere Rechtsverletzung ohne Strafe hinweggeht. Denn dann würde die Sünde gegen alle Ordnung erlassen – so als hätte Gott zur Sünde nachträglich sein Einverständnis gegeben. Es würde so aussehen, als hätte Gott seine Gebote gar nicht ernst gemeint!
BOSO: Da kann ich dir nicht widersprechen.
ANSELM: Würde es aber zu einem gerechten Gott passen, dem Bösen freien Lauf zu lassen, seine Rechtsordnung preiszugeben, über zahllose Opfer hinwegzusehen, und den Tätern damit sein Einverständnis zu geben?
BOSO: Auf gar keinen Fall! Wenn Gott Sünder genauso behandelte wie Sündlose, würde ja er selbst den Unterschied zwischen Recht und Unrecht einebnen. Er würde außer Kraft setzen, was er durch die Schrift und die Propheten gesagt hat – und damit sein gegebenes Wort zurücknehmen.
ANSELM: Also sind wir darin einig, dass Gott Unrecht nicht dulden darf. Und Unrecht wäre es zweifellos, wenn das Geschöpf Gott nicht erstattete, was es ihm genommen hat. Gott muss seine Weltordnung wahren, indem er ihre Verletzung ahndet.
BOSO: Das sehe ich jetzt ein, Anselm: Keiner kann selig werden und sich mit Gott versöhnen, wenn er nicht zurückerstattet, was er durch die Sünde widerrechtlich an sich gerissen hat. Eine Wiedergutmachung muss sein. Aber meinst du nicht, dass der Mensch das durch Frömmigkeit und gute Werke schaffen kann?
ANSELM: Was für Werke sollten das sein, Boso? Lass hören, was du als Wiedergutmachung für deine Sünden an Gott entrichten willst!
BOSO: Nun, ich dachte an Nächstenliebe und Reue, an Entsagungen und fleißige Gebete, an Fastentage und Pilgerwege, an ein gutes Herz und wohltätige Spenden – und überhaupt an den Gehorsam gegen alle Gebote.
ANSELM: Das sind alles gute Vorsätze, Boso. Aber wenn du Gott bloß gibst, was du ihm ohnehin schuldest, darfst du das nicht anrechnen für jene Schuld, der du durch die Sünde verfallen bist. Alles, was du angeführt hast, bist du Gott sowieso schuldig. Und wenn du deinen Vorsätzen nachkommst, tust du damit nur deine ganz normale Pflicht. Was aber wirst du Gott zahlen und erstatten für die vielen Tage, die du im Ungehorsam verbracht hast?
BOSO: Na wenn ich mich selbst und all mein Können Gott schulde allezeit, wie soll mir da noch etwas übrig bleiben, womit ich meine Sündenschuld erstatten könnte? Ich schaffe doch nicht einmal, was meine Pflicht ist!
ANSELM: Wenn du aber über deine Pflicht hinaus nichts tun kannst, wie willst du dann jemals Wiedergutmachung leisten? Und wenn du die nicht leistest, was wird dann dein Los sein?
BOSO: Ich kann nicht sehen, wie ich da jemals herauskommen soll.
ANSELM: Und ich muss dir darin zustimmen. Bedenke nur, dass auch vor irdischen Gerichten die Strafe für ein Vergehen nach der Größe des entstandenen Schadens bemessen wird: Wer eine Kleinigkeit stiehlt oder zerstört, wird weniger schwer bestraft als der, der eine große Kostbarkeit gestohlen oder zerstört hat. Wenn du nun aber schon durch deine kleinste Sünde die Ehre Gottes antastest, die doch unendlich kostbar ist, ist dann nicht deine Schuld von entsprechendem Gewicht, und erfordert sie nicht eine entsprechend große – unendlich große! – Wiedergutmachung?
BOSO: Mir wird ganz flau, Anselm. Aber du hast Recht: Tatsächlich ist unsere Schuld von unendlicher Schwere. Und zur Sühnung steht uns nichts zur Verfügung, als bloß die wenigen guten Werke, die wir Gott ohnehin schulden. Wir schweben in großer Gefahr, Anselm. Und würde mich nicht der Glaube trösten, so könnten mich deine Worte zur Verzweiflung treiben. Denn wie es aussieht, hat überhaupt kein Mensch Aussicht, die Seligkeit und das ewige Leben zu erlangen. Wahrlich: Wenn Gott Gerechtigkeit walten lässt, gibt es keinen Ausweg für uns arme Menschen – und es scheint, als ob Gottes Barmherzigkeit verschwände.
ANSELM: Ich leugne bestimmt nicht, dass Gott barmherzig ist! Doch soviel müsste uns nun klar sein, dass die Seligkeit keinem verliehen werden darf, dem nicht die Sünden vollends vergeben sind, und dass diese Vergebung nur erfolgen kann nach Abtragung der Schuld.
BOSO: So ist es. Nur – wie um alles in der Welt – soll der Mensch gerettet werden, wenn er selbst seine Schuld nicht abträgt, ohne Schuldabtragung aber nicht gerettet werden kann? Ich frage mich wirklich, warum Gott die Menschheit nicht einfach vernichtet, um sich andere und bessere Geschöpfe zuzulegen!
ANSELM: Aber Boso – auch das würde schlecht zu Gott passen! Denn es verträgt sich zwar nicht mit seiner Würde, seine eigenen Gebote umzustoßen und zur Sünde sein Einverständnis zu geben. Es vertrüge sich aber ebensowenig mit Gottes Treue, wenn er seinen guten Schöpfungsplan aufgeben würde wie ein gescheitertes Experiment. Es entspricht nicht seinem Wesen, das Böse ungesühnt zu lassen. Aber es entspräche ebensowenig seinem Wesen, seine großen Verheißungen unerfüllt und den Himmel leer zu lassen. Nein, Boso: Wenn Gott den Menschen für die ewige Seligkeit geschaffen und bestimmt hat, so ist es undenkbar, dass nicht wenigstens einige Menschen diese Seligkeit erlangen! Hat Gott vernunftbegabte Kreaturen gemacht, um sich an ihnen zu erfreuen, so lässt er sie nicht samt und sonders zu Grunde gehen!
BOSO: Daraus folgt dann aber, dass es einen Weg zur Erlösung geben muss.
ANSELM: Genau. Und du wirst es gleich verstehen, wie der aussieht, wenn wir die Dinge zusammenfassen: Wir haben festgestellt, dass Gott hinsichtlich der Menschen vollenden wird, was er angefangen hat. Und wir haben auch gesagt, dass das nur geschehen kann durch eine vollständige Sühnung der Sünden, die der Sünder selbst nicht leisten kann. Wenn also geschehen muss, was die Geschöpfe überfordert, liegt dann nicht auf der Hand, dass es der Schöpfer selbst tun muss?
BOSO: Es bleibt nichts anderes übrig.
ANSELM: Also kann nur Gott solche Sühne leisten.
BOSO: Das folgt mit Notwendigkeit.
ANSELM: Und doch sollte diese Sühne niemand leisten als der Mensch, der den Schaden verursacht hat.
BOSO: Auch das stimmt.
ANSELM: Besteht also die Notwendigkeit der Erlösung, um Gottes Plan zum Ziel zu führen, und kann Erlösung nicht stattfinden, ohne dass eine entsprechende Sühne vorausgeht, die niemand leisten kann außer Gott, und die niemand leisten soll außer der Mensch: So muss der, welcher sie wirklich leistet, offenbar Gott und Mensch zugleich sein.
BOSO: Äh, kannst du das noch mal langsam sagen, Anselm?
ANSELM: Na klar: (1.) besteht die Notwendigkeit der Erlösung, um Gottes Plan zum Ziel zu führen. Und (2.) kann die Erlösung nicht stattfinden, ohne dass eine entsprechende Sühne vorausgeht. (3.) vermag niemand diese Sühne zu leisten außer Gott. Und (4.) soll niemand die Sühne leisten außer dem Menschen, der den Schaden verursacht hat. Daraus folgt aber unausweichlich (5.) dass derjenige, der die Sühne wirklich leistet, Gott und Mensch zugleich sein muss.
BOSO: Gott sei Dank für deine Einsichten, lieber Anselm! Jetzt verstehe ich, warum Gott diesen beschwerlichen Weg gehen musste, ein Mensch zu werden – und warum es gar nicht anders ging! Es gab hier ein Werk zu tun, das niemand tun konnte als nur Gott selbst – und das keiner tun durfte, außer einem Menschen. Unsere Erlösung bedurfte Gottes in Menschengestalt! Nun erkläre mir aber noch das eine Anselm: Warum konnte Jesus Christus leisten, was doch sonst kein Mensch vermochte?
ANSELM: Nun, Boso: Das ist einfach. Du erinnerst dich doch daran, dass eine Wiedergutmachung nicht in dem bestehen kann, was ich dem Geschädigten sowieso schuldig bin, sondern nur in etwas, was darüber hinausgeht. Wir Sünder verfügen über nichts Derartiges, denn wir schulden Gott den Gehorsam unseres Lebens und schulden – um der Sünde willen – auch den Tod. Jesus Christus aber war als einziger Mensch ohne Sünde. Er allein war nicht unter dem Verhängnis, das Adam über uns gebracht hat. Als einziger Unschuldiger hätte Jesus nicht sterben müssen. Er hatte das nicht verdient. Eben deshalb aber konnte Jesus sein Leben aus freien Stücken zum Opfer bringen, und konnte zu Gunsten der Sünder etwas geben, was er für seine eigene Person niemandem schuldete.
BOSO: Du hast Recht, Anselm. Der Tod ist Folge der Sünde. Und ohne Sünde hätten Adam und Eva nicht sterben müssen. Wenn also Gottes Sohn unschuldig ist, und dennoch sein Leben hergibt zur Erlösung der Menschen und zur Verherrlichung Gottes, dann gibt er es freiwillig und über alle Pflicht hinaus.
ANSELM: Richtig. Nun kann man aber nichts Beschwerlicheres zu Gottes Ehre freiwillig und ungeschuldet erleiden als den Tod. Auf keine Weise vermag der Mensch mehr hinzugeben. Und weil es zudem Gottes eigener Sohn war, der sein Leben gab, darum wiegt sein Opfer die Schuld der ganzen Welt auf. So viele Sünden auch geschehen auf Erden, so wird doch diese Wiedergutmachung stets das Übergewicht behalten.
BOSO: Lieber Anselm, ich danke dir! Du hast mir gezeigt, dass die Erlösung der Menschheit nicht unterbleiben sollte, und dass sie nicht anders erfolgen konnte, als indem der Mensch seine Sündenschuld abtrug – eine Schuld allerdings, die so groß war, dass nur Gott sie abtragen konnte, weswegen der, der die Last trug Gott und Mensch zugleich sein musste. Es gab keinen anderen Weg. Das ist der Grund, weshalb Gott Mensch wurde. Und ich danke dir für diese Einsicht. Denn nun hat auch meine Vernunft erkannt, dass es genau nur so geschehen konnte, wie es nach dem Zeugnis der Schrift tatsächlich geschehen ist. Dass aber Vernunft und Glaube darin so herrlich übereinstimmen – das finde ich toll!