Nimmt man an, der Mensch sei „auch nur ein Tier“, kann man ihm kaum verdenken, dass er lebt, indem er tötet. Es erscheint dann ganz „natürlich“ – und das Lebensrecht der Schwachen ist entsprechend schwer zu begründen. Doch in Wahrheit ist der Menschen berufen, Gottes Ebenbild zu sein. Der Höchste hat ihn sich zum Gegenüber erwählt. Er gehört so wenig zu den Tieren, wie die Tiere zu den Pflanzen. Und das verleiht jedem Einzelnen ein Lebensrecht, das durch Leistungskraft nicht gesteigert und durch Schwäche nicht verringert werden kann.
Du sollst nicht töten…
Unter den Zehn Geboten ist wohl keines so allgemein akzeptiert wie das fünfte. Denn jeder sagt: „Na klar – du sollst nicht töten! Man darf keinen umbringen!“ Dem zuzustimmen kostet wenig. Denn im Stillen sagt sich jeder: „Ich bin kein Mörder – und also nicht betroffen.“ So freut man sich, wenigstens mit dem fünften Gebot keine Last zu haben, und ist mit der Sache schnell fertig, weil dem Gebot ja auch keiner direkt widerspricht. Es scheint darüber Konsens zu herrschen! Aber ist das wirklich so? Tatsächlich herrscht nur Einigkeit, solang man eine klassische „Kain-und-Abel-Situation“ vor Augen hat. Natürlich darf keiner im Streit, aus Zorn, Neid oder Habgier einen anderen erschlagen! Wenn aber Nato-Soldaten irgendwo auf der Welt Terroristen töten, die uns sehr konkret bedrohen, dann ist das schon ein anderer Fall. Wenn sich ein Schwerkranker einen Giftcocktail wünscht, um seine Leiden abzukürzen, denken viele, so etwas falle nicht unter das Gebot. Und wenn in Abtreibungskliniken routinemäßig Kinder auf Wunsch ihrer Eltern getötet werden, heißt es, da gälten andere Regeln. Bei der Todesstrafe scheint noch alles klar, und man empört sich dagegen. Doch wenn ein Mensch sich selbst umbringt, hört man, das sei sein gutes Recht. Das Attentat auf Kennedy beurteilt man ganz anders als die Attentate auf Hitler. Und tötet einer in Notwehr, geht das für die meisten in Ordnung. Stellt sich aber heraus, dass der Angreifer arm, hungrig und verzweifelt war, kommen schon wieder Bedenken. Und richtig kompliziert wird’s, sobald man indirekte Arten des Tötens in die Betrachtung mit einbezieht. Denn wenn Armut einen Lungenkranken zwingt, in einer schimmligen Wohnung zu leben, bringt ihn das ja auch um. Wer durch Mobbing einen anderen in den Selbstmord treibt, tötet ihn genauso wie der Minenbesitzer, der seine Arbeiter zu Tode schindet. Wer Waffen produziert, ist mit verantwortlich für das, was am anderen Ende der Welt mit diesen Waffen geschieht. Und wer mit legalen oder illegalen Drogen handelt, ist an den tödlichen Folgen auch nicht unbeteiligt. Nicht mal der Untätige ist auf der sicheren Seite! Denn sobald er irgendwo Menschen in Not weiß und nicht eingreift, wird er durch unterlassene Hilfeleistung an ihnen schuldig. Und legen wir gar den Maßstab der Bergpredigt an, beginnt das Töten schon beim Zorn. Denn wenn ich jemand hasse, wünsche ich ja, dass es ihn nicht gäbe, und habe ihn damit meiner Intention nach schon „aus der Welt geschafft“ (Mt 5,21-22).
Beziehen wir das alles ein, so greift das Tötungsverbot viel weiter als gedacht. Und mit ihm in Konflikt zu kommen, ist praktisch unvermeidbar. Denn wer immer in dieser Welt Raum für sich beansprucht, macht ihn anderen streitig. Schon das pure Dasein bringt uns in Konkurrenz mit anderem Leben. Und natürlich führt der Mensch das auch gleich zu seiner Verteidigung ins Feld. Denn – ist es nicht ein Grundgesetz der Natur, dass immer einer auf Kosten des anderen lebt? Und kann man uns wirklich vorwerfen, dass wir diesem Naturgesetz genauso wenig entrinnen wie der Schwerkraft? Haben wir das mit dem „Fressen und gefressen werden“ denn erfunden? Haben wir eine andere Wahl, als Hammer oder Amboss zu sein? Und darf man‘s uns verübeln, wenn wir, vor diese Alternative gestellt, lieber der Hammer sind?
Da erst kommen die heimlichen Gedanken ans Licht, und es wird interessant! Denn wie „sozial“ man sich auch gibt: Unter der Hand hängen doch viele einem schlichten Darwinismus an, der in der Natur einen Krieg „aller gegen alle“ beobachtet, und dies Faktische dann auch gleich zur Norm erhebt. „Was soll die Sozialromantik?“ sagen sie, „Stimmt‘s etwa nicht, dass die Natur das schwache Leben konsequent aussortiert und nur dem starken eine Zukunft gibt? Beruhen die evolutionären Prozesse, die zur höchsten Entwicklungsstufe geführt haben, nicht auf gnadenloser Selektion? Und ist demnach nicht das „survival of the fittest“ ein Erfolgsrezept der Biologie, ohne das es uns Menschen gar nicht gäbe? Hat nach diesem Prinzip nicht der Stärkere automatisch das Recht, sich durchzusetzen? Und täten die Schwachen nicht dasselbe, wenn sie‘s nur könnten? Ist es da nicht naiv und verlogen, wenn man dem Raubtier seine Zähne zum Vorwurf macht? Schon in der Ernährung kommen wir nur schlecht am Töten vorbei! Und wenn man die blutigste Arbeit an den Schlachter delegiert, ändert das wenig. Man lebt trotzdem auf Kosten von anderem Leben! Wenn’s aber faktisch so ist, sollte man dann nicht offen dazu stehen, dass uns die Natur zu dieser Art der Selbsterhaltung zwingt? Beruht nicht auch unser Bildungssystem auf der Auslese, und unser Wirtschaftssystem auf der Konkurrenz? Ist es nicht natürlich, notwendig und gesund, dass der Bessere den Schlechteren verdrängt?“
Wahrscheinlich kennt jeder diese Argumente. Und die meisten werden ihnen aus gutem Grund ablehnend gegenüberstehen. Denn es ist eine gefährlich Art des Denkens, die schnell zu üblen Konsequenzen führt! Nur – mit Empörung allein richtet man wenig aus. Denn dahinter steht das naturwissenschaftliche Weltbild, das heute auch das vorherrschende Bild des Menschen bestimmt. Und es fragt sich, was man entgegnen kann. Denn die Kinder lernen heute in der Schule, der Mensch sei „auch nur ein Tier“ – nämlich eine fortgeschrittene Untergruppe der Säugetiere. Und frage ich meine Konfirmanden, warum man dann Schweine schlachten und essen darf, Menschen aber nicht, können sie mir keinen Grund angeben. Ich frage sie, warum man alte Hunde einschläfert, alte Menschen aber nicht, und sie können‘s nicht erklären. Wenn aber jemand käme, der aus der Biologie wieder eine Weltanschauung ableitet, wie es die NS-Ideologen taten, dann weiß ich nicht, ob unsere Jugendlichen dagegen gut gewappnet wären. Denn schließlich ist Rassismus nichts anderes als eine Anwendung der darwinistischen Weltsicht auf das Miteinander der Völker. Und diese Weltsicht ist nicht schon dadurch überwunden, dass man heute das Vokabular der Nazis meidet. Denn jeder Schüler, der das Prinzip der Evolution versteht, kann folgern, dass Gemeinschaften manchmal vom Sterben ihrer schwächsten Glieder profitieren. Er kann aus dem Biologieunterricht die Erkenntnis mitnehmen, dass sich das Leben durch den Tod der Untüchtigen erneuert und kräftigt! Und was will man dem dann entgegnen, um das Lebensrecht jedes Einzelnen zu verteidigen? Natürlich kann man darauf verweisen, dass die Gesellschaft ein Interesse am Schutz ihrer Mitglieder hat. Doch das stimmt vorrangig für die sozial „Nützlichen“, die durch Arbeit einen Beitrag leisten. Und bei vielen anderen wird eine Kosten-Nutzen-Rechnung nicht aufgehen! Man kann behaupten, das Leben „an sich“ sei schützenswert, weil es doch schön ist! Doch das Argument zieht vorrangig bei denen, die gesund und daher genussfähig sind. Auf dauerhaft Leidende, tief Depressive und Komapatienten ist es nur schwer anzuwenden! Hält man die Vernunft für das eigentlich schützenswerte Gut, an dem man die Menschenwürde festmacht, wird man folgerichtig die Klugen schonen. Aber geistig Eingeschränkte und Dementen fallen hinten runter! Und will sich der Mensch einfach selbst ein Menschenrecht auf Leben bescheinigen, hält das UNO-Dekret nur so lange, bis es sich eine Mehrheit anders überlegt.
Mit anderen Worten: um den Menschen vor dem Menschen zu schützen, reichen solche Argumente nicht aus. Es bedarf dazu einer höheren Autorität als der Mensch selbst es jemals sein kann. Nur der Schöpfer des Lebens kann dem Starken verbieten, den Schwachen zu töten. Denn dessen Lebensrecht wird durch Biologie und Nützlichkeitserwägungen eben nicht begründet, sondern gerade durch sie in Zweifel gezogen. Es ist nur in Gottes Gebot sicher zu verankern. Und dies fünfte der zehn Gebote wird man in seinem tiefsten Grund auch nur verstehen, wenn man im Menschen mehr sieht, als ein spezielles „Tier“. Denn so viel auch den Menschen nach seiner leiblichen Seite mit den Tieren verbindet, ist das Entscheidende an ihm doch nicht die Biologie, sondern jene höhere Berufung zum Ebenbild Gottes, die den Menschen über das Vieh erhebt. Es ist gar nichts dagegen zu sagen, dass der Mensch gerne isst und verdaut, dass er Nachkommen zeugt, rauft und spielt, schläft, in der Sonne liegt und sich den Rücken kraulen lässt. Aber in solchen Leidenschaften, die wir mit Affen, Kühen und Alligatoren teilen, liegt denn doch nicht der Wesenskern des Menschen. Sondern der besteht in der Berufung zu einer bewussten Gottesbeziehung, die so nur der Mensch haben kann. Er ist nämlich nicht geschaffen, um mit der Nase im Dreck dieser Erde zu wühlen und Trüffel zu suchen. Sondern er ist geschaffen, um seine Augen zum Himmel zu erheben und über das Nächstliegende hinauszuschauen. Nicht an dem, was unter ihm ist, soll der Mensch sich orientieren, sondern an dem, was über ihm ist. Nicht mit den Tieren soll er sich vergleichen, sondern die Gemeinschaft der Engel suchen. Nicht dem Gesetz des Stärkeren soll er huldigen, sondern dem Gesetz der Liebe, die Christus lehrt. Denn nicht für die Erde sind wir gemacht, sondern die Erde für uns, und wir Menschen für den Dialog mit Gott! Gesprächspartner Gottes soll der Mensch sein und mit ihm in ungetrübter Gemeinschaft stehen! Darauf zielt die ganze Schöpfung! Wer nun aber einen Menschen tötet, der durchkreuzt damit Gottes gute Absicht. Indem er Gottes Ebenbild tötet, verneint er, was Gott am höchsten bejaht. Und er zerstört dabei eine ganze Welt. Denn er macht den zu Staub, den Gott durch seine Zuwendung heiligen wollte. Er trennt genau die Verbindung, die der Schöpfer erstrebt. Und das heißt: Wer tötet, handelt weniger gegen den Menschen, als gegen seinen Schöpfer, der auch mit jenem Menschen Gemeinschaft suchte! Er zerschlägt, was der Höchste sich zum Gegenüber erwählt hat. Und dadurch wird es bitter ernst mit dem fünften Gebot. Denn wer das ihm selbst geliehene Leben nutzt, um andere zu töten, spielt das Leben gegen das Leben aus und verneint damit den Schöpferwillen, dem er sich selbst verdankt. Was könnte ihn aber berechtigen, ein Leben zu nehmen, das er doch nie zu geben vermöchte? Welche Legitimation hätte er, zu zerstören, was der Allmächtige geschaffen hat? Wer Menschen tötet, vergreift sich an Gottes Eigentum und hindert damit nicht nur sich selbst am gottgefälligen Sein, sondern zugleich auch das Opfer! Er wirft in den Staub, was Gott zu sich erheben wollte. Er degradiert zum Mittel, was für Gott Ziel und Zweck war. Er nimmt zur Steigerung des eigenen Lebens den Tod eines anderen in Kauf. Und er stellt sein Opfer damit auf eine Stufe mit den Pflanzen und Tieren, deren Nutzung Gott erlaubt hat (1. Mos. 9,3-6). Schon diesen Pflanzen und Tieren schuldet der Mensch einen pfleglichen und fürsorglichen Umgang (Spr 12,10)! Doch in anderen Menschen hat er Geschwister zu erkennen und Ebenbilder Gottes, die er nicht antasten darf. Denn bei aller Gemeinsamkeit mit Flora und Fauna sind Menschen doch eine ganz eigene Größe. Niemand würde behaupten, Pflanzen seien eigentlich nur hochentwickelte Mineralien! Niemand würde sagen, Tiere seien bloß hochentwickelte Pflanzen! Warum heißt es dann aber, der Mensch sei nur ein hochentwickeltes Tier? Er ist viel mehr als das. Der Mensch ist zu Gottes Ebenbild geschaffen! Und er gehört daher genau so wenig zu den Tieren, wie die Tiere zu den Pflanzen gehören. Der Mensch soll nicht unter sich schauen, sondern über sich. Er soll sich nicht an den anderen Geschöpfen orientieren, sondern an seinem Schöpfer. Und dass der ihn gewollt und zum Dialog berufen hat, begründet das Lebensrecht und die Menschenwürde auch der Schwächsten, ohne dass es noch weiterer Gründe bedürfte. Das ungeborene Kind muss nicht erst nachweisen, dass es zum Glück seiner Eltern beitragen wird. Der demente Greis muss sein Dasein nicht durch „Nützlichkeit“ legitimieren. Und behinderte Menschen müssen sich nicht daran messen lassen, was sie zum Bruttosozialprodukt beisteuern. Denn das Lebensrecht des Einzelnen kann durch Leistungskraft nicht gesteigert und durch Schwäche nicht verringert werden. Er verdankt es einzig und allein seinem Schöpfer. Und nur dieser Schöpfer, der die Person ins Leben hinein stellte, hat auch das Recht, sie wieder daraus abzuberufen. Gott allein steht die Entscheidung zu, wann einer genug gelebt hat. Er allein ist Herr über Leben und Tod. Und so schwierig die ethischen Fragen dann im Einzelnen auch noch sein mögen, kann doch zumindest der Blickwinkel nicht strittig sein, von dem aus sie zu beurteilen und zu entscheiden sind. Mit Calvins Worten gesagt: Es ist uns „…jede Gewalttat und jeder Frevel, überhaupt alles untersagt, was dem Leben unseres Nächsten schädlich werden kann, und dagegen geboten, zur Erhaltung seines Lebens nach unserem besten Vermögen beizutragen, seine Ruhe und Zufriedenheit zu befördern, Schaden von ihm abzuwenden, in Nöten und Gefahren ihm Hilfe und Beistand zu leisten.“ Dass wir solches aber nicht versäumen, sondern alles Leben sorgsam schützen, dazu helfe uns Gott.