Jesus hat seine Jünger gelehrt, dass sie nicht nur beten dürfen, sondern dass sie beten sollen. Der Sinn des Gebets liegt aber nicht darin, dass ich Gott über etwas informiere, was er sonst nicht wüsste, oder bei ihm etwas erreiche, was er mir sonst nicht gegeben hätte, sondern darin, dass ich mit Gott im Gespräch bin. Der Betende sucht Gottes Nähe um dieser Nähe willen. Das Ziel des Gebets liegt darum nicht irgendwo „jenseits“ des Gebets, so dass es nur Mittel zum Zweck wäre, sondern das Ziel liegt im Gebet selbst – in dem ich mich für Gott, und Gott sich für mich öffnet.  

Das Ziel des Gebets

Wozu betet man eigentlich?


Jesus hat seine Jünger gelehrt, dass sie nicht nur beten dürfen und beten können, wenn sie gerade mal Lust haben, sondern dass sie beten sollen. Ja, er fordert sie auf, allzeit zu beten und nicht darin nachzulassen. Denn wie eine Witwe, die um ihr Recht kämpft, und dem Richter mit ihrem Geschrei auf die Nerven geht, so sollen auch wir Gott in den Ohren liegen mit unseren Gebeten (Lk 18,1–8). Wir sollen regelrecht darauf drängen, bei Gott Gehör zu finden mit all unseren Nöten und Freuden, mit großen und kleinen Anliegen, mit Lob und mit Klage, mit Bitte und mit Dank. Gott will offensichtlich, dass wir mit ihm im Gespräch bleiben. Aber hat man nicht manchmal den Eindruck, dieses Gespräch sei Gott wichtiger als uns und unseren Zeitgenossen? Beten viele Menschen mit großer Leidenschaft und Intensität? Beten wir oft, tun wir’s auf dringliche Weise und erwarten wir Reaktionen? Rechnen wir damit, dass unser Gebet etwas bewirkt? Ich fürchte, bei vielen ist das nicht so. Und wenn man sie fragt, warum ihnen dieser Teil des Glaubens wenig bedeutet, dann haben sie durchaus vernünftige Gründe dafür. Denn das Verhältnis zwischen uns und Gott scheint ja doch ganz anders zu sein, als zwischen einer klagenden Witwe und einem irdischen Richter. Zum einen ist da ein Unterschied, weil Gott doch schon alles weiß. Es gibt nichts, worüber ich ihn durch mein Gebet informieren müsste. Denn Gott ist allwissend. Er weiß, was ich brauche, noch bevor ich selbst es weiß. Und er weiß, was ich sagen will, noch bevor ich den Mund aufmache. Warum also soll ich Gott im Gebet mein Innerstes erklären? Er kennt mich doch besser als ich mich selber kenne! Gott schaut in die Herzen hinein, er kennt alle meine Gedanken. Warum soll ich ihn also langweilen, in dem ich ausbreite, was ihm bekannt ist? Wozu braucht er, der alles versteht, meine Erklärungen? Und zum anderen: Warum soll ich Gott mit meinen Bitten und Wünschen bedrängen? Ist es nicht viel wichtiger, dass in der Welt Gottes Wille geschieht, als dass mein Wille geschieht? Gott ist doch nicht nur allwissend. Er ist doch auch im höchsten Maße weise. Der Plan seiner Vorsehung umfasst die Vergangenheit und die Zukunft der ganzen Welt. Soll ich da annehmen, Gott würde auf mein törichtes Gebet hin seinen kluges Gesamtkonzept ändern? Ja, wäre das nicht beinahe ein lächerlicher Gott, wenn er auf mein Gebet wartete, um daraufhin den Masterplan des Weltgeschehens neu zu ordnen? In Wahrheit weiß Gott viel besser, was mir und dem Rest der Welt gut tut. Er hat den nötigen Überblick, er kennt die verborgenen Zusammenhänge, er stellt heute schon die Weichen für das, was in tausend Jahren geschieht. Und ich sollte mir einbilden, dass mein Drängen ihn umstimmt? Ist das denn überhaupt wünschenswert, dass Gott mir nachgäbe? Bin ich der Richtige, um ihm Ratschläge zu erteilen? Wie gesagt – das alles scheinen sehr vernünftige Einwände zu sein. Im Ergebnis aber können sie unser Gebetsleben völlig lahmlegen. Wer solchen Überlegungen folgt, gelangt bald dahin, sich das Gebet als eine Möglichkeit für außergewöhnliche Notfälle aufzuheben und nur sehr sparsamen Gebrauch davon zu machen – wie es ja viele auch tun. Und doch – obwohl sich diese Zurückhaltung so einleuchtend begründen lässt, ist sie das Gegenteil von dem, was das Neue Testament fordert. Denn Jesus fordert uns mehrfach dazu auf, intensiv und häufig und mit großen Erwartungen zu beten. Obwohl niemand Gott etwas erzählen kann, was er nicht längst wüsste, sollen wir es ihm erzählen. Und obwohl Gott unsere Bedürfnisse genauestens kennt, sollen wir sie ihm mitteilen. Ist das nicht absurd? Ich meine, dass des Rätsels Lösung in einer kleinen Geschichte liegt, die auch ihrerseits absurd scheint, und mit unserem Thema erst mal wenig zu tun hat.


Die Geschichte aus alter Zeit erzählt von einer Stadt im Orient, in der ein blinder Mann wohnte. Dieser Blinde hatte schon sein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht und kannte sich darum in den verwinkelten Gassen so gut aus, dass er eigentlich gar keinen Blindenstock brauchte. Jede Ecke war ihm vertraut, jeder Graben, jede Hauswand, jeder Zaun, jede Treppe, jede Steigung und jedes Geländer. Er fand ganz von selbst seinen Weg und musste dabei kaum langsamer gehen als ein Sehender. Eines Nachts aber, als es besonders finster war, da machten die Bewohner der Stadt eine Beobachtung, die sie sehr verwirrte. Denn der blinde Mann, den sie alle kannten, ging mit einem Krug Oliven auf der Schulter durch die Straßen und trug dabei eine brennende Laterne, die den Weg beleuchtete. „Ja, du meine Güte“, tuschelten die Leute, „was macht denn der Blinde mit einer Laterne? Was kann sie ihm denn nützen? Ist der Alte etwa verrückt geworden?“ In der nächsten Nacht geschah dasselbe. Wiederum war es stockfinster auf den Straßen und der Blinde ging umher mit einer brennenden Laterne. Da endlich fasste einer den Mut und ging zu ihm hin und sagte: „Mein Freund, erlaube eine Frage: Tag und Nacht sind doch völlig gleich für deine Augen, und wir wissen alle, dass du deinen Weg findest, ohne dafür Licht zu brauchen. Was also kann dir diese Laterne nützen?“ Der Blinde aber lächelte in sich hinein und antwortete: „Das versteht ihr nicht? Denke doch: Diese Laterne ist nicht für mich nötig, sondern für dich und die anderen, damit ihr mich im Dunklen nicht überseht, wenn ich komme, und mir nicht meinen Krug von der Schulter stoßt!“


Ich mag diese Geschichte sehr, weil die Lösung des Rätsels so verblüffend und doch so naheliegend ist. Wenn ein Blinder in der Nacht eine Laterne herumträgt, dann nicht, weil er Licht bräuchte, sondern weil die Anderen es brauchen. Die Laterne schützt ihn nicht vor seinem eigenen Ungeschick, denn er findet sich „blind“ zurecht, sondern sie schützt ihn vor der Ungeschicklichkeit der Anderen, die ohne Licht nicht klar kommen. Nicht er braucht Erleuchtung, sondern die Anderen brauchen Erleuchtung. Wenn es sich aber in Sachen Gebet ganz ähnlich verhielte? Wenn Gott dem Blinden entspräche, wir den Sehenden, und das Gebet die Funktion der Laterne hätte? Wir haben uns eben noch gewundert, warum denn Gott Gebete von uns fordert, obwohl er im Voraus weiß, was wir sagen werden. Wir haben uns gefragt, warum wir ihm Bedürfnisse vortragen sollen, die er längst kennt. Unsere kleine Geschichte legt nun aber den Schluss nahe, dass möglicherweise nicht Gott unsere Gebete braucht, um auf dem Laufenden zu sein, sondern dass wir sie brauchen. Gott bedarf keiner Erleuchtung durch Gebete, wie der Blinde keine Laterne braucht, aber vielleicht haben wir es ja nötig, im Gebet erleuchtet zu werden. Und ich meine in der Tat, dass es sich so verhält. Gott fordert das Gebet nicht um seinetwillen, sondern um unseretwillen, weil wir Licht brauchen, um unseren Weg zu finden, und auch nur betend lernen, unsere Nöte, Freuden und Hoffnungen vor Gott zu bringen. Gott wird dadurch, dass ich ihn mit Gebeten bestürme, gewiss kein anderer – aber ich werde dadurch ein anderer. Meine Gebete werden schwerlich Gott umstimmen und seine weisen Pläne ändern – aber sie können mich umstimmen, sobald ich mich betend Gottes Plänen zur Verfügung stelle. Gott kennt auch vorher meine Gedanken! Aber ich muss sie vielleicht vor Gott ausbreiten, um zu erkennen, was diese Gedanken vor Gott bedeuten und wie sich meine Wünsche, Sorgen und Taten darstellen im Licht vor Gottes Angesicht. Gott weiß darüber längst Bescheid, aber ich weiß es nicht – und kann im Gebet lernen, mein Leben mit den Augen Gottes zu betrachten. Denn manche Dummheit, einmal vor Gott ausgesprochen, wird sofort als Dummheit erkennbar. Und manche Sorge, einmal vor Gott gebracht, verwandelt sich in Zuversicht. Ja, ernstlich betrachtet heißt Beten nichts anderes, als dass ich meine Leben bedenke und durchleuchte in seiner Beziehung zu Gott – und die Wirrnis meiner Gedanken Gott zu Füßen lege. Betend rücke ich mein kleines Dasein ins große Scheinwerferlicht seiner Wahrheit. Betend mache ich mir klar, dass ich alles, was ich bin, zuerst einmal vor Gott bin, und unter seinen kritischen Augen. Betend überlasse ich Gott Entscheidungen, die ich sonst gedankenlos an mich reißen würde. Und wenn ich mich danach realistischer sehe, weil ich mich im Gegenüber zu Gott sehe, hat dann Beten nicht längst geholfen? Muss ich mir dann einbilden, dass mein Beten Gott verändert, wenn es doch sehr effektiv und sehr positiv mich verändert? Romano Guardini sagte einmal: „Wir beten nicht, um Gott wissen zu lassen, was wir wollen, denn er kennt unser Herz besser als wir selbst; sondern wer betet, lebt vor ihm, zu ihm hin, von ihm her, gibt Gott, was sein ist, und empfängt, was Er geben will.“ Anders ausgedrückt: Der Sinn des Gebetes liegt nicht darin, dass mein Gespräch bei Gott etwas erreicht, das er mir sonst nicht gegeben hätte, sondern darin, dass ich mit Gott im Gespräch bin. Der Betende sucht nicht Gottes Ohr, um ihm etwas abzupressen oder sich bei ihm einzuschleimen, sondern er sucht Gottes Nähe um dieser Nähe willen. Denn das eigentliche Ziel des Gebets liegt nicht irgendwo „jenseits“ des Gebets, so dass es nur Mittel zum Zweck wäre, sondern das Ziel liegt im Gebet selbst – in dem ich mich für Gott, und Gott sich für mich öffnet. Soll das nun heißen, dass Gebete nichts bewirken könnten, außer im Beter? Soll es heißen, dass Bitten nicht erhört würden? Nein. Ich will das Gebet bestimmt nicht auf innerpsychische Effekte reduzieren! Ganz gewiss kann Gott Gebete erhören und kann dem Lauf der Welt eine Wendung geben, ganz gewiss kann Gott auf das Drängen eines Beters reagieren und auf unerwartete Weise in sein Schicksal eingreifen. Wir dürfen ihn auch immer darum bitten! Aber ich vermag darin nicht das Ziel des Gebetes zu erkennen, dass Gott hinterher macht, was ich ihm im Gebet vorgeschlagen habe. Denn auch im Gebet Jesu – im Vaterunser – heißt es gleich zu Anfang: „Dein Wille geschehe“. Wir sollen nicht beten, damit unser Wille geschehe, sondern damit Gottes Wille geschehe „wie im Himmel, so auf Erden“. Und damit Gottes Wille auch in mir geschehe, darum scheint mir das Wesentliche am Gebet nicht zu sein, dass ich Gott versuche meinen Willen aufzudrängen, sondern betend lerne, meinen Willen ganz in den seinen einzufügen. Nicht dass Gott auf mich hört ist entscheidend, sondern dass ich auf ihn höre. Und wie er meine Angelegenheiten dann ordnen mag und wie er mein Schicksal fügt, wunschgemäß oder auch nicht, das soll mir dann allemal recht sein. Wie Gott es fügt, ist es allemal das Beste, und dies Beste tut Gott zum Glück auch ungebeten. Gott findet seinen Weg auch blind – wie der Mann in der Geschichte. Aber damit ich sehe, darum trägt er in der Nacht eine Laterne und verordnet mir in der Nacht meiner Ratlosigkeit das Gebet. Nicht weil er hinterher verstünde, was er vorher nicht verstand, sondern weil ich nach dem Gebet begreife, was ich vorher nicht begriff. Erhebe ich mich aber vom Gebet und bin dadurch verändert, weil ich im Gebet Gott nahe kam, ist dann mein Gebet nicht schon erhört? Gibt es denn etwas, worum sich zu beten lohnt, wenn nicht um die Nähe Gottes, die sich im Gebet selbst ereignet? Als Mensch vor Gottes gnädigem Angesicht zu stehen, ist tatsächlich der Vollzug und das Ziel des Gebetes in einem. Von Gott angehört zu werden, ist schon der schönste Lohn, und die Aufmerksamkeit, die Gott uns darin zuwendet, kann aus dem Beter tatsächlich einen neuen Menschen machen. Dass wir’s aber so erleben am eigenen Leibe, und die Faulheit zum Gebet überwinden, zum eigenen, wohlverstandenen Vorteil – das schenke uns der barmherzige Gott…