Oft wird gesagt, das Neue Testament zeige nicht den „historischen Jesus“, sondern nur den „geglaubten Christus“. Doch wie sollten beide unterscheidbar sein? Weder kann man den Evangelisten aus ihren eigenen Schriften (!) beweisen, dass sie sich mit ihrer Christologie zu Unrecht auf Jesus berufen, noch kann man aus ihren eigenen Schriften (!) beweisen, dass sie es zu Recht tun. Wir haben keinen Zugang zu einem „historischen Jesus“, brauchen aber auch keinen. Denn der Jesus, den die Christenheit kennt und braucht, ist der biblische Christus.
War er vielleicht ganz anders?
Oft wird unterstellt, das im Neuen Testament gezeichnete Bild Jesu sei dem Glauben der Autoren entsprungen und zeige darum nur den „geglaubten“ Christus – und nicht den „wirklichen“ Jesus. Es heißt, der historische Jesus, wie er wirklich war, müsse erst aus dem Christuszeugnis der frühen Gemeinde herauspräpariert werden, wie man von einem vielfach übermalten Bild erst die Schichten der Übermalung abheben muss, um das Original freizulegen. Immer wieder versuchen sich Theologen daran. Es fällt aber auf, dass der „echte“ Jesus, den sie dann als Ergebnis ihrer Forschungen präsentieren, regelmäßig der Theologie und dem Wunschbild des Forschers entspricht. Man muss darum fragen, ob es überhaupt möglich ist, an einen verborgenen, historischen Jesus heranzukommen – oder ob man sich besser an den Jesus Christus hält, den das Neue Testament offen bezeugt.
– A –
Die Autoren des Neuen Testamentes sind keine „neutralen“ Berichterstatter, sondern Glaubenszeugen, die aus der Tendenz und Absicht ihrer Schriften kein Geheimnis machen: Sie erzählen uns von Jesus Christus als von dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn, zu dem sie sich bekennen, und fordern den Leser auf, auch seinerseits in Jesus Christus seinen Herrn zu finden.
– B –
Quellen, die eine andere Perspektive einnehmen und ein grundlegend anderes Bild Jesu zeichnen, stehen uns nicht zur Verfügung. Es gibt keine jüdische oder heidnische Darstellung des Lebens und der Lehre Jesu. Bei den zeitgenössischen Historikern finden sich über Jesus nur kurze Notizen. Und es gibt auch keine Schriften, die er selbst hinterlassen hätte, und mit denen man den Bericht der Evangelien vergleichen könnte. Entscheidend ist nun, was man aus A und B folgert. Meines Erachtens folgt:
– C –
Wir haben durch die Evangelien zwar einen Zugang zu Jesu Leben und Lehre, besitzen darüber hinaus aber keinen zweiten Maßstab, der zur Bestätigung oder zur Kritik der neutestamentlichen Darstellung herangezogen werden könnte. Es kann sein, dass der „wirkliche“ und „historische“ Jesus anders war, als der biblische Christus, den uns die Evangelien bezeugen. Aber er muss nicht anders gewesen sein. Wir haben keine Möglichkeit, das zu prüfen. Es kann auch sein, dass der „wirkliche“ und „historische“ Jesus genau so war, wie der biblische Christus, den uns die Evangelien bezeugen. Aber er muss nicht so gewesen sein. Wir haben keine Möglichkeit, das zu prüfen.
Wenn trotzdem immer wieder der Versuch gemacht wird, „hinter“ die Darstellung der Evangelien zurückzugehen und dort einen „historischen Jesus“ zu suchen oder zu rekonstruieren, den man anschließend mit dem „biblischen Christus“ vergleichen kann, liegt das daran, dass einem Teil der Forschenden an der Übereinstimmung beider gelegen ist, und einem anderen Teil an der Nicht–Übereinstimmung: Die Einen versuchen das kirchlich–dogmatische Bild des „biblischen Christus“ zu stützen und zu stabilisieren, indem sie beweisen, dass es dem „historischen Jesus“ weitgehend entspricht. Und die Anderen versuchen dasselbe kirchlich–dogmatische Bild Christi aufzulösen und zu relativieren, indem sie zeigen, dass der „historische Jesus“ ganz anders war. Beide Strategien haben ihre Anhänger. Doch ignorieren beide die oben dargestellte Lage. Denn wie kann jemand anhand der einzigen Quelle, die er hat, beweisen, dass genau diese Quelle das Bild des geschilderten Gegenstandes verzerrt? Oder wie kann jemand anhand der einzigen Quelle, die er hat, beweisen, dass diese Quelle den geschilderten Gegenstand korrekt beschreibt? Ohne Kontrollmöglichkeit ist beides absurd: Weder kann man den Evangelisten aus ihren eigenen Schriften (!) beweisen, dass sie sich mit ihrer nachösterlichen Christologie zu Unrecht auf den vorösterlichen Jesus berufen, noch kann man aus ihren eigenen Schriften (!) beweisen, dass sie es zu Recht tun. Man kann den „gepredigten“ Christus nicht am „historischen“ überprüfen, weil man den „historischen“ nicht anders hat, als eben „gepredigt“. Und das heißt: So wie die Quellenlage sich darstellt, ist es sinnlos, hinter dem „biblischen Christus“ einen (vielleicht ganz anderen) „historischen Jesus“ zu suchen. Selbst wenn es ihn gäbe, hätten wir keinen Zugang zu ihm. Wir brauchen ihn aber auch gar nicht. Denn der Jesus Christus, den die Christenheit seit Jahrhunderten kennt und braucht, ist der biblische Christus, der uns im Neuen Testament begegnet. Und der bedarf keiner historischen Beglaubigung. Er beglaubigt seine Vollmacht selbst, indem er Glauben weckt.
(Man vgl. zu dieser Thematik die Schrift von Martin Kähler: „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus“ 1892).