Christen erwarten das Heil von Gottes kommendem Reich. Doch ist dasselbe Heil auch schon hier und heute gegenwärtig und kann durchaus erfahren werden, weil das, was den kommenden Himmel ausmacht, die innig-versöhnte Übereinstimmung mit Gott ist. Und die beginnt nicht irgendwann „später“, sondern heute: wer im Glauben Christus „hat“, hat in und mit ihm auch schon das Heil, die Seligkeit und das Ewige Leben. Alles Wesentliche ist ihm mit dem Brot des Abendmahls in die Hand gedrückt – und er steht mit einem Bein bereits im Himmel.
Es ist merkwürdig, von der „Gegenwart“ des „Kommenden“ zu sprechen – und mancher wird schon in dieser Überschrift einen Widerspruch sehen. Denn ist es nicht das Wesen des Gegenwärtigen, dass es schon da ist? Und ist es nicht das Wesen des Kommenden, dass es noch fehlt? Wie kann man da sinnvoll von einer „Gegen-wart des Kommenden“ sprechen? Das erscheint paradox – und ist doch für den christlichen Glauben von so zentraler Bedeutung, dass ich es in vierfacher Hinsicht erläutern will.
1. Die Gegenwart des Kommenden im Warten
Was ist das für ein merkwürdiger Vorgang, den wir „Warten“ nennen? Man sollte meinen, dass wir ihn gut kennen, und doch ist er nicht leicht zu beschreiben. Denn wer „wartet“, scheint eigentlich „nichts“ zu tun. Und dennoch ist Warten eine Tätigkeit, die anstrengend sein kann. Wie ist das aber möglich, dass uns eine Nicht-Tätigkeit, eine Un-Tätigkeit anstrengt? Nun – Warten kostet Kraft, weil es von uns verlangt, innerlich auf etwas konzentriert zu sein, das äußerlich noch nicht da ist. Und das ist schwer. Denn alles, was schon da ist, buhlt um unsere Aufmerksamkeit. Und wenn es auch noch so banal sein mag, scheint es doch immerhin „wirklicher“ zu sein als die Wirklichkeit, die man erst noch erwartet. Was schon da ist, prägt sich von selbst den Sinnen ein und greift Raum in unseren Gedanken. Was aber nicht da ist, weil wir‘s erwarten, das ist für die äußeren Sinne noch nicht da, sondern ist sozusagen nur für die inneren Sinne da, nur für die Gedanken, weil der Wartende nur um seine Möglichkeit weiß und ihre Verwirklichung herbeisehnt – ohne dass er viel dafür tun könnte. Das als künftig Erwartete ist eigentlich nur wirklich, weil und insofern der Mensch es erwartet. Und dessen Warten ist gewissermaßen die vorweggenommene Wirkung eines Ereignisses, das eigentlich noch gar keine Wirkungen haben dürfte, weil es als Ereignis noch nicht eingetreten ist. Wie aber kann etwas Wirkungen haben, bevor es da ist? Das ist natürlich nur möglich, weil der Mensch Gegenwart und Zukunft unterscheiden und kraft dieser Unterscheidung vorausschauende Erwartungen hegen kann. Nur der Mensch ist in dieser Weise fähig, sich schon heute zu etwas zu verhalten, das erst morgen passieren wird. Wenn er aber darauf wartet, so tut er dabei nichts anderes als eben „zu warten“ – und das heißt: er beschäftigt sich nicht mit tausend anderen Dingen, sondern hält sich selbst bereit, um das Erwartete zu empfangen. Mag sein, dass er in der Wartezeit an der Bushaltestelle sein Kleingeld zählt. Doch ist er immer bereit, diese beiläufigen Beschäftigungen abzubrechen, wenn der Bus kommt. Der Wartende hält sich also bereit, er hält sich offen, er hält sich sowohl die Zeit als auch den Kopf frei, weil nichts anderes seine Aufmerksamkeit fesseln soll als nur das, was er erwartet. Wie lange er aber zu warten vermag, das hängt von der Wertschätzung der Sache ab, auf die er wartet. Absolut nicht warten zu wollen, ist Ausdruck von Geringschätzung! Wenn geduldiges Warten aber Kraft kostet (weil es eine Bindung innerlich aufrechterhält, die sich äußerlich noch nicht hergestellt hat), so ist es doch nicht ohne Lohn, sondern verändert und beflügelt den Wartenden schon in der Gegenwart. Denn als Wartender hat er eine Wette auf die Zukunft abgeschlossen. Und weil er bei dieser Wette selbst der Einsatz ist und in eigener Person auf dem Spiel steht, geht er mit dem, was er erwartet, eine innige Verbindung ein. Er gibt dem Kommenden schon vorweg Raum in seinem Herzen.
Er macht es damit zu einem Teil seiner Gegenwart. Und zugleich gelangt er durch die Vorwegnahme des Kommenden schon ein Stück über seine Gegenwart hinaus. Denn das Herz des Wartenden liegt nicht tot herum wie ein Stein, sondern ist wie ein fliegender Pfeil, den er über den Grenzzaun in die Zukunft schießt. Indem er das tut, ist der Wartende nicht mehr bloß ein Bewohner der gegebenen Welt, sondern zugleich ein Bürger der kommenden Welt. Und von Erwartung getrieben ist sein Herz der Zeit voraus.
Warten heißt demnach, das in Gedanken präsent zu halten, was sich den Augen noch entzieht. Es heißt, sich durch das Sichtbare und Verfügbare nicht ablenken zu lassen vom Unsichtbaren und Unverfügbaren. Und wenn solches Warten auch passiv und leicht erscheint, kann es für den Betroffenen doch anstrengend sein, weil das Warten zu einem guten Teil im Ertragen dieser Passivität besteht. Oder wollte jemand leugnen, dass sich die klugen und die törichten Jungfrauen aus Matthäus 25,1-13 etwas Schweres vorgenommen hatten? Sie alle wollten sich bereithalten für die Ankunft des Bräutigams zu ungewisser Stunde! Doch nur die Hälfte war der Aufgabe gewachsen. Die fünf törichten Jungfrauen haben sich weder mit Geduld noch mit genügend Öl gewappnet. Ihr Glaube ist ein Strohfeuer, denn sie warten nur ein Weilchen, verpassen dann aber die Hauptsache und stehen zuletzt jammernd vor verschlossenen Türen. Die klugen Jungfrauen hingegen haben sich auf längeres Warten eingerichtet, haben Öl für ihre Lampen und Geduld für viele Stunden, ihr Glaube ist resistent gegen Frust und Langeweile, und sie verpassen darum auch die Hochzeit nicht, denn die klugen Jungfrauen sind konzentriert und beharrlich entschlossen, sich um keinen Preis ablenken zu lassen. Sie sind nicht mal bereit, mit den anderen ihr Öl zu teilen! Und Jesus, der doch sonst viel vom Teilen hält, stellt uns gerade diese Entschlossenheit und diesen gnadenlosen Willen, ans Ziel zu gelangen, als Vorbild vor Augen. Denn so und nicht anders will er bei der Wiederkunft seine Jünger antreffen. Wenn er überraschend hereinbricht in diese Welt, will er die Seinen nicht etwa schlafend vorfinden oder abgelenkt, sondern hellwach und vorbereitet. Er will sehen, ob sie ihm den Ehrenplatz in ihrem Leben freigehalten haben – oder seinen Stuhl einem anderen überließen. Wer das aber weiß und ihn mit brennender Geduld erwartet, für den ist in solchem Warten das Kommende schon gegenwärtig.
2. Die Gegenwart des Kommenden im Wort
Menschliche Worte sind oft „Schall und Rauch“ – ohnmächtiges Gerede, das leicht ignoriert werden kann, weil es eben „bloß Worte“ und keine Taten sind. Doch bei Gott ist das anders. Sein Wort steht nicht in Alternative zu „Taten“, sondern Gottes Wort ist Tat. Es beschreibt nicht bloß, was auch unbeschrieben wirklich wäre, sondern es schafft die Wirklichkeit, von der es redet. Es erzählt nicht bloß von Gottes Reich, sondern erzählt davon so, dass der Hörende dabei innerlich umgeschaffen und in Gottes Reich einbezogen wird. Und das heißt: mit dem Evangelium kommt nicht nur die Botschaft von künftiger Gnade, sondern im Hören des Evangeliums ereignet sich diese Gnade. Und wo die Verheißung geglaubt wird, ist sie im selben Moment auch schon erfüllt. Wie aber geht das zu? Auf den ersten Blick scheint die Bibel nur einen Bericht zu bieten: eine wahrlich große, alle Vergangenheit und Zukunft umfassenden Erzählung. Doch kann man es nicht – wie bei anderen Berichten – bei der bloßen „Kenntnisnahme“ bewenden lassen. Denn die biblische Erzählung erhebt den Anspruch, die universale Rahmenerzählung zur individuellen Lebensgeschichte des Lesers zu sein. Und wenn sie das wirklich ist, bildet sie den übergeordneten Kontext, aus dem sich die angemessene Deutung des individuellen Daseins des Lesers ergibt. Mit anderen Worten: die Bibel erhebt den Anspruch, mir nicht die Geschichte anderer Menschen, sondern meine Geschichte zu erzählen. Nicht der Leser deutet und interpretiert die Bibel, sondern die Bibel deutet und interpretiert ihren Leser. Sie erzählt ihm von der vielschichtigen Beziehung Gottes zu den Menschen, von ihrer ursprünglichen Gestalt, von ihrer Störung und ihrer Heilung. Und diese erzählende Ansage schließt das Angebot eines der Erzählung entsprechenden Selbstverständ-nisses mit ein. Wer in der biblischen Geschichte seine eigene Geschichte erkennt, wird eben dadurch ein anderer Mensch und wird eben der Heilung teilhaftig, von der ihm die Bibel erzählt hat. Glaubt der Empfänger der Botschaft, so vollzieht sich an ihm das, wovon die Botschaft berichtet: Gott kommt in die Welt, um die gestörte Gottesbeziehung des Menschen zu heilen. Er sendet sein Wort, damit es tut und wirkt, wovon es spricht. Und wo ein Mensch hörend die in diesem Wort enthaltene Deutung seines Daseins erkennt und anerkennt, versteht er seine Gottesbeziehung nicht nur neu, sondern erlebt im Glauben eine vollständige Wandlung dieser eben noch problematischen Beziehung zu einer positiven und versöhnten. Gott offenbart sich durch das biblische Wort nicht ohne dabei den Hörenden neu zu sich in Beziehung zu setzen und ihm durch sein glaubendes Erkennen Anteil zu geben an Gottes eigener Wahrheit und Lebendigkeit. Bei distanzierter Betrachtung scheint die Bibel zwar nur „Mitteilungen“ zu bieten. Wer aber entdeckt, dass sie ihn selbst betreffen, wird durch Gottes Mitteilung neu geschaffen und wiedergeboren, weil sie ihn nicht bloß „informiert“, sondern überführt, überwindet und in die heilvolle Gemeinschaft Gottes einbezieht. Glaubendes Erkennen ist also ein Innewerden, bei dem der Erkennende durch das Erkannte in seiner ganzen Existenz neu bestimmt wird und am Erkannten zu partizipieren beginnt. Gott teilt dabei nicht irgendetwas mit, sondern „sich“. Und daraufhin im Hl. Geist die Einheit von Vater und Sohn zu bekennen, heißt zugleich, die Einheit mit Gott zu gewinnen, denn wer im Glauben Gottes Einheit erkennt und bekennt, hat auch Anteil an ihr. Wenn dem Hörer des Evangeliums die Verwerfung der Sünde und die Begnadigung des Sünders so vor Augen stehen, dass er beide Urteile auf sich selbst bezieht und bejaht, dann hat er durch die Bejahung beider Anteil gewonnen an der Gnade. Wer aber Anteil hat an der Gnade, der hat von Gottes Liebe nicht bloß „gehört“, sondern wurde von ihr erreicht und in sie einbezogen. Sein Glaube ist dann viel mehr als eine Kenntnis-nahme göttlicher Worte! Sein Glaube ist ein Sich-gründen und Ruhen in dem, der diese Worte sprach. Und das heißt: wird das Wort von der Gnade dankbar aufgenommen, wird eben damit die Gnade zum Ereignis, und der, der an sie glaubt, hat sie auch. Wird das Wort von der Gnade aber stolz abgelehnt, ist damit die Gnade abgelehnt, und der, der meint, sie nicht nötig zu haben, erfährt sie auch nicht. Das eine ist mit dem anderen unmittelbar gegeben! Denn da ist nicht einerseits die Gnade und andererseits das Wort, das von ihr redet, sondern die Gnade ist im Wort enthalten, und das Wort in der Gnade. Da ist nicht einerseits Jesus und andererseits das Wort, das von ihm erzählt, sondern Jesus ist im Wort, das Wort ist Jesus, und er wird mit dem Wort zugleich angenommen oder abgewiesen. Da ist nicht einerseits das Reich Gottes und andererseits die Botschaft vom Reich, sondern das Reich ist in der Botschaft enthalten, und wenn die einen Menschen erreicht, erreicht und ergreift ihn Gottes Reich und wird im Hören und Glauben zum Ereignis. Es wäre daher ein Missverständnis, wenn jemand meinte, die Entscheidung über das Schicksal seiner Seele fiele erst in ferner Zukunft beim Jüngsten Gericht. Denn im Wort, das unseren Glauben fordert, ist auch das kommende Gericht schon Gegenwart. Wo immer Gottes Wort verkündet wird, ist es Christus, der darin Anspruch auf das Leben der Hörer erhebt. Und weil er selbst die Gnade ist, die es zu ergreifen gilt, bedeutet jedes Ja oder Nein zu Christus ein endgültiges Urteil des Menschen über sich selbst. Wer Christus verwirft, ist schon verworfen, und wer ihn annimmt, ist schon angenommen. Denn Christus spricht: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ (Joh 5,24). Ist demnach das Gericht, ist das Reich Gottes oder das ewige Leben „fern“? Nein! All dies Kommende ist – unbeschadet seiner Zukunft – auch schon Gegenwart im Wort!
3. Die Gegenwart des Kommenden im Glauben
Was ist es eigentlich, worauf christliche Hoffnung sich richtet? Was ist die gemein-same Substanz der verschiedenen Bilder vom Reich Gottes, vom Paradies, vom himmlischen Jerusalem, vom Ewigen Leben und der Seligkeit der Erlösten? Es lässt sich nicht wie bei einem „Schlaraffenland“ in Kategorien des Konsums und der Zerstreuung ausdrücken. Sondern das zentrale Bedürfnis, das der Himmel stillen wird, ist jenes nach ungestörter Gemeinschaft mit Gott. Nicht irgendetwas wird in der Seligkeit beglücken, sondern Gottes Nähe wird beglücken. Und diese Nähe wird eben darum herrlich sein, weil zwischen Gott und den Erlösten kein Dissens mehr besteht, sondern völlige Übereinstimmung. Wir werden Gott verstehen, den wir im Leben so oft nicht verstanden. Wir werden ohne jeden inneren Widerstand dasselbe wollen, was Gott will. Und wir werden an dem teilhaben, was Gott in seiner Heiligkeit, Wahrheit, Ewigkeit, Freiheit und Lebendigkeit selbst ist. Ja, Augustin sagt, wir werden Gottes „voll“ sein! Statt uns widerspenstig an ihm zu reiben und ihm das Gott-Sein zu neiden, statt verzweifelt zu rebellieren und zu konkurrieren, statt anmaßend und vergeblich auf dem eigenen Willen zu beharren, werden wir uns freudig in ihn hinein verlieren, werden nicht versuchen ihm zu gleichen, sondern werden ihm gänzlich entsprechen – wie ein Handschuh der Hand. Wir werden uns bewusst von Gott unterscheiden, indem wir ihm die Ehre geben, und werden gerade in dieser Selbstunterscheidung ganz mit ihm einig sein. Wenn das aber den Himmels ausmacht, wenn also das Wesentliche an ihm die Übereinstimmung mit Gott ist – sollte dieser Himmel dann ausschließlich in der Zukunft oder im „Jenseits“ liegen? Sollte er nicht schon hier und heute beginnen, wo immer ein Mensch glaubt? Ist denn Glaube etwas anderes, als eine fragmentarische und doch reale Form jener innigen Verbundenheit und Übereinstimmung mit Gott? Wer leugnen wollte, dass Gottes Reich schon auf Erden begonnen hat, müsste das Evangelium selbst leugnen. Denn das Evangelium verspricht dem Glaubenden keine Erlösung ohne sie im selben Moment auch zu wirken! Es verspricht keine Gnade ohne sie zu verleihen. Und es redet nicht von Rechtfertigung ohne sie zu vollziehen. Das Neue Testament beschreibt das Heil nicht als bloße „Zukunftsmusik“, sondern zugleich als etwas dem Glaubenden aktuell Gegebenes. Und als solches kann es in begnadeten Momenten zu einer starken inneren Erfahrung werden. Denn der Glaube selbst ist ein tiefer Konsens mit Gott – und damit ein Vorgeschmack und eine Vorwegnahme dessen, was den Himmel ausmachen wird. Das Reich Gottes wächst im Verborgenen. Und dies Verborgene ist der Innenraum des Glaubens. Wer dort einkehrt, erfährt das Künftige aber schon in der Gegenwart und kommt dabei „auf den Geschmack“, weil‘s im Innenraum des Glaubens viel richtiger zugeht als draußen, und es die Verstehenden darum unwiderstehlich nach innen zieht. Draußen in der Welt geht’s gnadenlos zu, und wer die Macht hat, diktiert, was als Recht gelten soll. Drin aber beugen auch die Mächtigsten ganz ohne Zwang die Knie vor dem Einen, der nicht nur Recht, sondern auch Gnade walten lässt. Draußen in der Welt gibt’s keine Unschuld, denn die kommt da sofort unter die Räder. Drinnen aber freuen sich die, die reinen Herzens sind, an dem, der gänzlich ohne Sünde ist. Draußen herrscht das käufliche Glück, nach dem die Menschen gieren ohne jemals daran satt zu werden. Drinnen aber gibt es statt vergänglichem Spaß jene ruhige Seligkeit, die Christus verströmt und die so ewig ist, wie das ewige Leben selbst. Draußen entspringt die Hektik einer großen Verwirrung, weil einer den anderen belügt und durch Täuschung erlangen will, was er mit Gewalt nicht nehmen kann. Drinnen aber finden sich keine Blender, sondern schlichte Leute, die in Demut einfach nur sind, was sie sind, und auch nichts anderes vorgeben müssen. Draußen lärmen die Gierigen, und es schreien die Enttäuschten, denn da muss man fressen oder gefressen werden. Doch bei Christus drinnen findet jeder einen Winkel, wo er bleiben darf, und keiner wird gefragt, was er da zu suchen hätte. Ja – und das ist denn auch schon die ganze Sensation, dass in der Innenwelt des Glaubens, anders als in der Welt, alles mit rechten Dingen zugeht. Da steht nur der im Mittelpunkt, der dort hingehört. Und verehrt wird allein der Heilige, der aller Verehrung würdig ist. Wer in irgendeinem Sinne „unten“ ist, muss das nicht leugnen, denn im Konsens mit Gott „unten“ zu sein, hat nichts Demütigendes. Und wer „oben“ ist, trumpft deswegen nicht auf, denn im Konsens mit Gott „oben“ zu sein, schließt allen Stolz aus. In der Innenwelt des Glaubens herrscht ein Frieden, der nicht erzwungen und darum auch nicht gefährdet ist. Er ergibt sich einfach daraus, dass hier die himmlische Ordnung waltet, die der Welt draußen fehlt. Da wird in aller Einfalt verehrt, was gut ist, und erstrebt, was heilig ist. Alles Geschöpfliche richten sich willig an dem Schöpfer aus, der ihm Ursprung, Ziel und Maßstab ist. Gott und Mensch sind völlig versöhnt beieinander, und das aufgeschreckte Herz findet zur Ruhe, weil die Sehnsucht, einträchtig und angstfrei bei Gott zu sein, hier erfüllt wird. In der Glaubenswelt macht keiner etwas falsch, und keiner ist zu schäbig, um hineinzudürfen. Keiner wird auf seine Vergangenheit festgenagelt, und keiner muss so tun, als wäre er toller, als er ist. Aber durch die Anbetung des Würdigen kommt ein jeder in seine Wahrheit. Da wird auch der krümmste Hund zum Hausgenossen des Höchsten, und auch die größten Sünder werden geadelt durch das Eingeständnis ihrer Schuld. Der Heilige aber, der ihnen in ihre Niedrigkeit entgegenkommt, weist keinen ab, sondern duldet alle. Denn was immer an ihnen falsch sein mag, wird doch dadurch richtig, dass sie Christus aufsuchen, es ihm vor die Füße legen und sich auf ihn ausrichten. Da ist ein jeder wohlgelitten, keiner wird beschämt, und keiner spielt sich auf. Die Mitte bildet der, dem es gebührt, die Mitte zu sein. Und die nicht das Zentrum bilden, versuchen auch nicht, das Zentrum zu werden. Das Beste ist aber, dass keiner um sich selber kreist, sondern alle auf den konzentriert sind, bei dem sie, über die eigene Herzensenge hinausgehoben, selbstvergessen zu sich selbst finden. Der Glaube ist demnach die Form, in der der Himmel schon heute offen steht. Er ist nicht irgendwo „oben“, sondern „innen“ zu suchen. Und wer gemerkt hat, dass es in der Welt nicht recht zugeht, kann dort jederzeit einkehren. Christus bringt in die verdrehten Seelen die heilsame Ordnung, die all unsere Bitten erfüllt. Denn wir bitten „Dein Reich komme“. Und der Glaube, der so bittet, erfüllt auch sogleich, was er bittet. Denn in der Wendung zu Christus nehmen wir vorweg, was das Reich Gottes künftig sein wird: wer immer Gott die gebührende Ehre gibt, entspricht damit der Wahrheit, tut, was recht ist, und ist dadurch ganz einig mit dem, den er verehrt. Mit Gott aber einig zu sein oder wieder einig zu werden – was wäre erstrebenswerter? Eben dies ist die Bestimmung des Menschen, die sich im Glauben erfüllt. Eben dies ist schon „Himmel“. Denn im Glauben ist Gott unser, wir sind sein, und alles kommt ins Lot. Wer mag, kann das „Mystik“ nennen. Ich nenne es lieber die Gegenwart des Kommenden im Glauben.
4. Die Gegenwart des Kommenden im Sakrament
Ein kluger Mann hat gesagt: „Nicht wo der Himmel ist, ist Gott, sondern wo Gott ist, ist der Himmel.“ Und wer den Himmel nicht als Schlaraffenland, sondern als ungetrübte Gemeinschaft mit Gott versteht, kann dem nur zustimmen. Denn ein Mensch mag ja sein wo er will, lebendig oder tot, wenn er von Gott getrennt ist, befindet er sich immer in der Hölle. Und ein Mensch mag sein wo er will, lebendig oder tot, wenn er mit Gott vereint ist, befindet er sich immer im Himmel. Die Entfremdung von Gott macht die Hölle zu Hölle, und die Versöhnung mit ihm den Himmel zu Himmel. Wo aber ist Gott den Gläubigen versöhnt und nah, wo ist er ihnen schon hier und heute gnädig zugewandt und gegenwärtig? Ist das nicht in besonderer Weise der gottesdienstlichen Gemeinde verheißen, wenn sie sich um Wort und Sakrament versammelt? Christus verspricht seiner Gemeinde: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20). Und er betont: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Wenn er aber in eigener Person der Weg, die Wahrheit und das Leben ist (Joh 14,6), wie sollte dann ein Mensch, der „in Christus“ ist, nicht mit Christus zugleich den Himmel haben? Der Glaube gibt Anteil an allem, was Christus zu Eigen ist, nämlich Gerechtigkeit, Heiligkeit und ewiges Leben. Wer das alles aber in Christus findet und in Christus „hat“, was fehlt dem noch zu seinem Heil? Ist dem nicht schon alles Wesentliche mit dem Brot des Abendmahls in die Hand gedrückt? Gibt Christus sich in Brot und Wein, so dass die Gläubigen seines Leibes und Blutes teilhaftig werden und den in sich aufnehmen, der sie in sich aufnimmt – was trennt sie in der Gemeinschaft mit Christus dann noch vom Reich Gottes, wenn doch das Reich Gottes selbst in nichts anderem besteht, als in eben dieser Gemeinschaft? In der Ewigkeit werden die Christen aller Jahrhunderte gemeinsam mit Christus zu Tisch sitzen beim himmlischen Freudenmahl. Doch nehmen wir dieselbe Gemeinschaft auch schon beim irdischen Abendmahl vorweg! Heute ist dieses Heil noch verborgen und muss geglaubt werden. Einst wird es offenbar und für jedermann zu sehen sein. Aber ist es nicht dennoch hier und dort, jetzt und dann, dasselbe Heil, dieselbe Gemeinschaft und derselbe Herr, dessen Nähe uns selig macht? Christen sollen nicht etwa „so tun“, als wäre Christus unter ihnen, sondern sie dürfen wissen, dass er es ist! Sie sollen sich nicht „vorstellen“, er sei gegenwärtig, sondern dürfen darüber frohe Gewissheit haben! Denn Jesus, die Erlösung und der Himmel kommen nicht irgendwann später, sondern in Wort und Sakrament ist Jesus schon jetzt bei den Seinen, in und mit ihm ist die Erlösung da, und diese Erlösung zur versöhnten Gemeinschaft mit Gott ist selbst schon der Himmel…
Sieht man es den Christen an, dass sie schon mit einem Bein im Himmel stehen? Leider nein. Wir sind oft nicht so getrost und zuversichtlich, wie es der Gegenwart des Kommenden entspräche. Oft spiegelt sich in den Gemütern und in den Gesichtern eher das, was C.S. Lewis nüchtern feststellte: „Bis zur Auferstehung kommt für uns noch immer das Kreuz vor der Krone, und morgen ist Montag.“ Damit ist die Gegenwart des Heils natürlich nicht bestritten. Es ist gegenwärtig und mächtig genug, um die Kirche trotz aller Widrigkeiten am Leben zu halten. Das Heil ist dem Einzelnen aber nicht immer so gegenwärtig, wie er es gerne hätte. Nein! Das Reich Gottes wächst leider so verborgen, dass man es leicht übersehen kann. Diese Verborgenheit wird schmerzlich erlitten. Und man muss nicht versuchen, diesen Schmerz mit aufgesetzter Fröhlichkeit zu überdecken. Man darf sich aber immer wieder klar machen, dass solcher Schmerz ein Symptom von geistlicher Gesundheit ist. Man sucht schließlich nur, was man kennt, und ersehnt nur, was man liebt. Wenn man etwas vermisst, hat es seinen Grund darin, dass man damit vertraut und innig verbunden ist. Und solche Verbundenheit ist eine Form von Nähe! Wenn man weiß, dass etwas verborgen ist, ist es nicht mehr ganz und gar verborgen. Wenn man Zusagen hat, deren Erfüllung feststeht, weil Gott sie garantiert, sind sie schon so gut wie erfüllt. Und wenn man Erbe eines Reiches ist, das einem sicher zufallen wird, ist man auch schon heute „reich“. Wer vom höchsten Richter freigesprochen wurde und in der Zelle nur noch auf die Entlassung wartet, ist selbst in Ketten ein freier Mann!
So kommt zwar trotzdem „das Kreuz vor der Krone“. Aber die Krone bleibt deswegen nicht aus. Christus bringt zuende, was er angefangen hat. Und wer das weiß, ist in dieser Gewissheit schon viel erlöster, als er sich selbst und der Welt erscheinen mag…