Es gibt nur einen christlichen Glauben. Doch ist dieser Glaube in mehr als einer Weise auf Gott bezogen. Je nachdem, welche der sieben „Beziehungsmuster“ dominieren, entwickelt der Mensch seinen speziellen „Typ“ des Christ-Seins. Diese Vielfalt des Glaubens ist zu begrüßen, weil jeder „Typ“ seine besonderen Stärken hat. Doch liegt auch eine Gefahr darin: Wird eine Beziehungsform ganz aus dem Zusammenhang der anderen gelöst und einseitig überbetont, kommt es zu Fehlformen des Glaubens.
Warum glauben Menschen so unterschiedlich?
Gottes Tierreich ist groß. Und auch die Menschen sind in vielerlei Hinsicht verschieden. Weil das aber dem menschlichen Ordnungssinn widerstrebt, versucht man immer wieder, das bunte Durcheinander in „Typen“ einzuteilen. Man kann dabei die Menschen nach ihrer körperlichen Gestalt unterscheiden, nach ihrem Charakter, nach ihren Essgewohnheiten, nach der Art ihrer Stressbewältigung oder nach ihren politischen Überzeugungen. Was aber ist mit dem Glauben? Die Frage drängt sich auf, denn auch die Christen sind ja keineswegs alle gleich. Und will man die Unterschiede zwischen ihnen nicht nur feststellen, sondern auch verstehen, so kommt man nicht umhin, nach „Typen“ des Christ-Seins zu fragen: Lassen sich da anhand gemeinsamer Merkmale „Gruppen“ bilden, die durch die Art ihres religiösen Erlebens von den anderen unterschieden sind? Und wenn ja, wie verhalten sich diese vielen Gruppen dann zu dem einen Glauben, den doch alle Christen miteinander teilen? Ich will im Folgenden eine Antwort geben, die vielleicht überraschend klingt. Denn meines Erachtens sind die Christen nicht trotz ihres gemeinsamen Glaubens verschieden, sondern wegen dieses gemeinsamen Glaubens. Der schließt nämlich nicht bloß eine Art von Gottesbeziehung ein, sondern sieben verschiedene Beziehungen, die miteinander im Zusammenhang stehen und die, je nach persönlicher Akzentsetzung, das Selbstverständnis des Christen so oder so bestimmen. Ein Christ steht nämlich...
(1.) …in Beziehung zu Gott dem Schöpfer: Er empfängt sein Leben bewusst aus Gottes Hand. Er kennt keinen „Zufall“ und kein „blindes Schicksal“. Sondern er weiß, dass er es in allem Harten und Zarten, in allem Schönen und Schweren, im Anfang wie im Ende immer mit seinem Schöpfer zu tun hat. Er erkennt seine Abhängigkeit und bejaht sie.
(2.) …in Beziehung zu Gott dem Gesetzgeber: Er kennt die Ordnungen, die Gott seiner Schöpfung auferlegt hat. Und er beugt sich der Autorität, die ihm darin begegnet. Er versucht nicht selbst zu bestimmen, was als „gut“ oder „böse“ gelten soll, sondern erkennt in Gottes Wille und Gebot den Maßstab, an dem sein Leben gemessen wird.
(3.) …in Beziehung zu Gott dem Offenbarenden: Er strebt nach Wahrheit, Klarheit und Erkenntnis. Er verachtet auch nicht Vernunft und Wissenschaft. Doch den Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Daseins, findet er in der Offenbarung. Indem er Gott erkennt, lernt er, sich selbst und die Welt von der Intention des Schöpfers her zu verstehen.
(4.) …in Beziehung zu Gott dem Richter: Er erfährt immer wieder, dass das Böse nicht nur in der Welt, sondern auch in ihm selbst mächtig ist. Er ist nicht, wie er nach Gottes Wille sein sollte. Und er kennt die schreckliche Konsequenz: Gott hat guten Grund, das Geschöpf zu verneinen, das durch sein Verhalten Gott verneint.
(5.) …in Beziehung zu Gott dem Erlöser: Er erkennt im Evangelium den von Gott gewiesenen Ausweg aus seiner verzweifelten Lage. Er vertraut auf Jesus Christus, der für ihn starb und auferstand. An ihn hängt und klammert er sich mit aller Kraft. Denn nicht bei sich selbst oder in der Welt, sondern allein bei Christus findet er Trost und Freiheit.
(6.) …in Beziehung zu Gott dem Heiligen Geist: Der Christ weiß sich von Gott angenommen. Er bemüht sich aber auch, ein dementsprechendes Leben zu führen, indem er Herz und Hände „heiligt“. Er gibt dem Geist Gottes Raum in seinen Gedanken, Worten und Werken. Und er hält sich zur Gemeinschaft der Kirche, die ihn dabei stärkt und stützt.
(7.) …in Beziehung zu Gott dem Vollender: Er weiß, dass Gottes Liebe das letzte Wort haben wird. Darum ist die Hoffnung des Christen unverwüstlich inmitten von Leid und Tod, Schmerz und Schuld. Diese Mächte bedrängen ihn zwar, aber er kann ihnen zuwider leben. Denn er erwartet getrost ihre Überwindung am Jüngsten Tag.
Nun: Die genannten sieben Beziehungen genügen, um das weite Feld des christlichen Glaubens grob zu umreißen. Und es wäre nicht weiter schwer, ihren inneren Zusammenhang aufzuzeigen. Doch was hat das mit unserer Frage nach den verschiedenen „Spielarten“ des christlichen Glaubens zu tun? Ich meine, die Unterschiede zwischen den Christen rühren daher, dass nicht bei jedem jeder der sieben Aspekte gleich stark entwickelt ist. Man wird zwar annehmen, dass in einem reifen Christenleben keines dieser sieben Elemente ganz fehlt. Doch bei dem einem steht eben dies und bei dem anderen jenes im Vordergrund. Das gibt jedem „Glaubenstyp“ sein besonderes Profil. Es macht seine jeweilige „Chance“ aus – und auch seine jeweilige „Gefahr“:
(1.) Die Beziehung zu Gott dem Schöpfer: Chance: Glaube, der hier seinen Schwerpunkt hat, zeichnet sich durch große „Bodenhaftung“ aus. Er verliert sich nicht so leicht in Betrachtungen des eigenen Seelenlebens oder in Spekulationen. Er ist vielmehr handfest, naturverbunden und konkret. Risiko: Drängt dieser Aspekt des Glaubens die anderen sechs in den Hintergrund, kann das Gottesbild des Menschen zweideutig werden. Der Glaube droht dann in den Fatalismus abzurutschen. Denn eine klare, hoffnungsfrohe Erkenntnis Gottes ist aus Natur und Geschichte nicht zu gewinnen, sondern nur aus dem Christuszeugnis der Heiligen Schrift.
(2.) Die Beziehung zu Gott dem Gesetzgeber: Chance: Glaube, der hier seinen Schwerpunkt hat, zeichnet sich durch ein hohes moralisches Niveau aus. Er kennt und benennt die Grenzen, die nicht überschritten werden können, ohne dass der Mensch sich und anderen schadet. Er verliert daher nicht so leicht die Orientierung. Risiko: Wo dieser Aspekt des Glaubens dominant ist, kann es zur Verwechslung von Christentum und Moralismus kommen. Allzu große Strenge erstickt dann die Freude, ein autoritäres Gottesbild verdeckt die Liebe Gottes, und die christliche Freiheit kann sich nicht entfalten.
(3.) Die Beziehung zu Gott dem Offenbarenden: Chance: Wer dieser Beziehung besonderes Gewicht beimisst, wird seinen Glauben gründlich durchdenken. Er versteht, was er glaubt. Er gewinnt Klarheit. Und diese Klarheit hilft ihm dann, sowohl den Kritikern des Glaubens als auch den eigenen Zweifeln klug und intellektuell redlich zu begegnen. Risiko: Wo dieser Aspekt einseitig überbetont wird, kann der Glaube in die Nähe des Intellektualismus, des Dogmatismus oder der theologischen Rechthaberei geraten. Das Für-wahr-halten bestimmter Glaubenssätzen erscheint dann wichtiger als die Hingabe des Herzens oder die Heiligung des Lebens.
(4.) Die Beziehung zu Gott dem Richter: Chance: Wer in diesem Aspekt des Glaubens beheimatet ist, zeichnet sich meist durch große Nüchternheit aus und hat aus eigener Erfahrung auch Verständnis für das Scheitern anderer Menschen. Er neigt nicht dazu, sich über andere zu erheben. Vielmehr kann er anderen beistehen, wenn sie Illusionen verlieren und ihre eigenen „Abgründe“ entdecken. Risiko: Wo dieser Aspekt des Glaubens allzu sehr überwiegt, kann Selbsterkenntnis in Depression, Verzweiflung oder Menschenverachtung umschlagen. Es kann zu einer regelrechten Leidensverliebtheit kommen, die hinter dem Zeichen des Kreuzes in Wirklichkeit nur ihren Selbsthass verbirgt.
(5.) Die Beziehung zu Gott dem Erlöser: Chance: Wo dieser Aspekt des Glaubens im Zentrum steht, entfaltet das Evangelium seine ganze Kraft und erfüllt den Menschen mit Zuversicht: Alles Schwere hat ihm Christus von den Schultern genommen, darum kann er mitreißend und befreiend wirken auf andere, die noch in Resignation gefangen liegen. Risiko: Die Konzentration auf Christus darf nicht zu Lasten Gott des Vaters oder des Heiligen Geistes gehen, denn sonst wird die „Erlösung“ gegen „Schöpfung“ und „Heiligung“ ausgespielt. Der Ernst des Gesetzes droht dann hinter dem Evangelium zu verschwinden. Und übrig bleibt nur die Verehrung des „lieben Herrn Jesus“, die leicht ins Süßlich-kitschige abrutscht.
(6.) Die Beziehung zu Gott dem Heiligen Geist: Chance: Wer hier seinen Schwerpunkt setzt, ist nicht bloß dem Namen nach „Christ“, sondern ist es mit Herz und Hand. Das Evangelium gewinnt in seinem Leben konkrete Gestalt und strahlt auf andere aus, weil so ein Mensch wirklich bemüht ist, seine Worte und Taten vom Geist Jesu durchdringen zu lassen. Risiko: Das Streben nach Heiligung kann, wenn es nicht mit Nüchternheit und Humor gepaart ist, leicht in fromme Selbstbespiegelung und Bigotterie übergehen. Wo das eigene Bemühen um Vervollkommnung zu sehr in den Vordergrund tritt, kann zudem der falsche Eindruck entstehen, das was Christus für uns getan hat, sei einer Ergänzung bedürftig.
(7.) Die Beziehung zu Gott dem Vollender: Chance: Dieser Aspekt des Glaubens ist herrlich, weil er auch da noch hoffen lässt, wo nach menschlichem Ermessen nichts mehr zu hoffen ist. Menschen, die sich von Gottes Verheißungen tragen lassen, wissen in großer Not zu trösten, weil sie die Geschichte allen Lebens vom (guten) Ende her deuten. Risiko: Wo ein Christ nur hoffend in der Zukunft lebt, kann es geschehen, dass er die Aufgaben der Gegenwart vernachlässigt. Die Vorfreude auf das, was Gott tun wird, lenkt dann ab von dem, was schon heute getan werden kann. Und im schlechtesten Fall wird aus „Trost“ bloße „Vertröstung“.
Ich schließe hier die kleine „Typenlehre“ des Christ–Seins. Zum Abschluss sei aber gefragt, wozu sie denn nütze ist. Eignet sie sich, um nun den eigenen Bekanntenkreis durchzugehen und über das mehr oder weniger „einseitige“ Christ-Sein anderer Menschen zu urteilen? Das wäre sicherlich keine sinnvolle Anwendung. Nur Gott schaut in die Herzen. Und schon darum sollten wir uns hüten, andere Menschen in ein Schema zu pressen. Zu unserer eigenen Besinnung könnte die Sache aber nützlich sein. Denn sie hilft mir, mich selbst kritisch zu befragen und auf Einseitigkeiten hin zu prüfen: Wo liegt für mich der „Schwerpunkt“ meines Glaubens? Welchen Aspekt vernachlässige ich gern? Habe ich hier oder dort „blinde Flecken“? Bin ich dieser oder jener „Gefahr“ schon einmal erlegen? Sind mir mit fortschreitendem Alter andere Aspekte wichtig geworden? Durch welche Erfahrungen hat sich mein Glaube gewandelt? Und in welcher Richtung könnte er jetzt weiter „wachsen“? Solche Überlegungen sind wichtig, denn das Haus des Glaubens hat viele Zimmer. Es ist normal, dass wir uns in einigen dieser Zimmer mehr „zu Hause“ fühlen als in anderen. Doch sollte uns auf die Dauer kein Zimmer ganz „fremd“ bleiben. Denn wer bestimmte Aspekte des Glaubens ausblendet, wird die Mitchristen nicht verstehen, die gerade dort ihren Schwerpunkt haben. Es lohnt sich darum, das ganze Haus zu bewohnen – und dabei nach und nach die große Vielfalt des Glaubens zu entdecken.