Gott scheint Glück und Unglück wahllos unter den Menschen zu verteilen, so dass zwischen Gläubigen und Ungläubigen zunächst kein Unterschied zu erkennen ist. Doch vermag nur der Gläubige, sich „alle Dinge zum Besten dienen zu lassen“: Der Glaube versteht es, durch jedes Geschick Gott näher zu kommen, während der Unglaube von jedem Geschick unseligen Gebrauch macht. Darum ist keine Sache so gut oder so schlecht, dass sie dem Ungläubigen nicht schadete. Und keine ist so gut oder so schlecht, dass sie dem Gläubigen nicht nützen könnte.
Warum geht es schlechten Menschen oft so gut?
Geht es gerecht zu in der Welt? Wer diese Frage stellt, erntet sogleich Kopfschütteln und Verwunderung. Denn kaum jemand würde wagen, sie zu bejahen. „Gerechtigkeit“ müsste ja bedeuten, dass jeder bekommt, was er (unsrer Meinung nach) verdient. Doch um solche „Gerechtigkeit“ kümmert sich das Schicksal wenig. Oder hat nicht jeder schon erlebt, wie brave Leute ohne eigenes Verschulden ins Unglück stürzen? Und ist es nicht empörend, dass gleichzeitig viele Schurken ihr Leben in vollen Zügen genießen? Ja, Gott scheint Glück und Unglück recht wahllos unter den Menschen zu verteilen. Eine Regel ist dabei nicht erkennbar. Und dass der Betreffende es jeweils „verdient“ hätte, erscheint sehr zweifelhaft. Die Übeltäter und Spötter, die weder nach Gott noch nach ihren Mitmenschen fragen, die scheint Gott manchmal geradezu zu belohnen. Und die Tränen geduldiger Christenmenschen, die ihr Bestes tun und Gott anrufen in ihrer Not, die scheint er oft genug zu ignorieren. Ist das nicht unfair? Ist das nicht Willkür? Und stellt es nicht überhaupt unser Christ-Sein in Frage, wenn Gott das Bemühen um ein gottgefälliges Leben in keiner Weise honoriert? „Soll es denn umsonst sein,“ fragt der Psalmbeter, „dass ich mein Herz rein hielt und meine Hände in Unschuld wasche?“ (Ps 73,13) Sehr menschlich, sehr verständlich ist diese Frage. Denn wir hätten‘s halt gern, wenn sich unser Christ-Sein nicht erst im nächsten Leben, sondern auch schon in diesem ein wenig lohnte. Doch bevor wir uns nun sinnlos ärgern über Gottes Freiheit, mit der er es regnen lässt über Gute und Böse, sollten wir lieber noch einmal einen Schritt zurücktreten. Denn es gibt ein biblisches Wort, das unserer Empörung den Wind aus den Segeln nimmt. Paulus schreibt nämlich im Römerbrief: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.“ (Röm 8,28) Harmlos klingt dieser Satz. Und doch stellt er die übliche Bewertung von Glück und Unglück völlig auf den Kopf. Denn Paulus behauptet hier, dass den Gläubigen nicht nur das Gute, Schöne und Erfreuliche „zum Besten dient“, sondern alles. Einfach alles, was dem Gläubigen widerfährt, soll ihm zum Vorteil gereichen. Alles – also auch das Schlechte! – soll ihm zum Guten verhelfen. Und diese Behauptung ist schwer zu schlucken. Der Gläubige verliert seinen Arbeitsplatz – und es dient ihm zum Besten? Der Gläubige wird schwer krank – und es gereicht ihm zum Vorteil? Der Gläubige muss einen lieben Menschen zu Grabe tragen – und es dient ihm zum Besten? Das kann doch Paulus nicht ernst meinen! Oder würde er etwa auch den Umkehrschluss zulassen: Der Ungläubige schwimmt im Geld – und es gereicht ihm zum Nachteil? Der Ungläubige findet Liebe und Anerkennung – und es gereicht ihm zum Nachteil? Der Ungläubige lebt lange und sorglos – und es gereicht ihm zum Nachteil? Doch tatsächlich: Paulus behauptet das. Und er verlangt uns damit die Einsicht ab, dass Glück nicht einfach Glück ist, und Unglück nicht einfach Unglück, sondern, dass das eine wie das andere sich in sein Gegenteil verkehrt – je nachdem, ob es einem Gläubigen oder einem Ungläubigen widerfährt. Anders gesagt: Das vermeintliche Glück der Gottlosen, über das wir uns empören, ist in tieferem Sinne gar kein „Glück“. Und das Unglück der Frommen, das wir ungerecht finden, ist in tieferem Sinne auch kein „Unglück“. Denn in der Sicht des Neuen Testamentes ist keine Sache so gut oder so schlecht, dass sie dem Ungläubigen nicht schadete. Und es ist keine Sache so gut oder so schlecht, dass sie dem Gläubigen nicht nützen könnte. Warum aber das? Einfach weil der Ungläubige von allen Dingen den falschen Gebrauch macht: Erlebt er Glück, so sieht er darin die Bestätigung dafür, dass sein falscher Lebensweg richtig sei. Er fühlt sich dann sicher, weil es ihm gut geht. Er denkt noch weniger nach, als wenn er zu leiden hätte, und er geht um so sicherer den Weg ins Verderben. Denn wo ihm Reichtum und Ehre zuteil werden, da gibt der Ungläubige sich diesen vergänglichen Dingen ganz hin, hängt sein Herz daran und vergisst Gott um so mehr, je mehr er sich in sein irdisches Glück hinein verliert. Das ist in Wahrheit nicht „Glück“ zu nennen. Erlebt der Ungläubige aber Unglück, so wird es keineswegs besser mit ihm. Denn auch davon macht er unseligen Gebrauch: Das Unglück verstärkt nur sein Misstrauen gegen den Gott, der ihm zumutet zu leiden. Und je härter es ihn trifft, um so mehr nimmt ihn seine egozentrische Sorge gefangen. Er versucht dann auf Kosten anderer sein Glück zu erzwingen, er vergeht sich dabei erst recht gegen Gottes Gebote, wird vom Neid zerfressen, hadert mit seinem vermeintlich unverdienten Schicksal und verhärtet sich immer mehr. Es ist darum egal, was dem Ungläubigen widerfährt – sei es Glück oder Unglück: Es treibt ihn doch immer nur weiter voran auf dem Weg, den er eingeschlagen hat. Sei es Glück oder Unglück – es gibt beides seiner Verstocktheit neue Nahrung und drängt ihn weiter hinab auf der schiefen Bahn, die er betreten hat. Darum gilt: Es ist keine Sache so gut oder so schlecht, dass sie dem Ungläubigen nicht schadete. Doch gilt ebenso das Umgekehrte: Es ist keine Sache so gut oder so schlecht, dass sie dem Gläubigen nicht nützen könnte. Denn egal, ob es Glück ist oder Unglück, es drängt beides den Gläubigen weiter voran auf der guten Bahn, die er eingeschlagen hat: Widerfährt ihm Glück, so dankt er dafür seinem Schöpfer und erkennt in allem Schönen eine segensvolle Gabe, die ihn in der Treue zu Gott bestärkt und bestätigt. Er sieht und schmeckt Gottes Freundlichkeit und zieht daraus neue Kraft für den guten Kampf des Glaubens. Widerfährt dem Gläubigen aber Unglück, so vermag auch dies ihm nicht wirklich zu schaden. Denn gerät er auch in Bedrängnis, so übt ihn diese Bedrängnis doch in Geduld, Geduld aber bringt Bewährung, Bewährung aber Hoffnung (Röm 5,1–5). Der Gläubige sucht deswegen nicht mutwillig irgendwelche Prüfungen. Aber wenn sie kommen, kann er gestärkt aus ihnen hervorgehen. Denn wo ihn die Welt enttäuscht, verwurzelt er sich nur umso fester in Gott. Das Unglück hilft ihm auf diese Weise, innere Distanz zu allem Irdischen zu gewinnen. Es hilft ihm, den Stolz aus seinem Herzen zu tilgen. Es lehrt ihn Demut. Und es stärkt seine Sehnsucht nach himmlischer Vollendung. Das Unglück schwächt also den „alten Adam“, der uns in den Knochen steckt. Es fördert unser geistliches Wachstum – und ist darum nur oberflächlich betrachtet ein „Unglück“ zu nennen. Es gilt demnach auch für den Gläubigen, was über den Ungläubigen gesagt werden musste: Was immer ihm widerfahren mag (egal ob Glück oder Unglück), es treibt ihn doch nur weiter voran auf dem Weg, den er eingeschlagen hat. Was es auch sei: Es gibt dem Glauben neue Nahrung zum Glauben, und dem Unglauben neue Nahrung zum Unglauben. Darum ist keine Sache so gut oder so schlecht, dass sie dem Gläubigen nicht nützte. Und darum ist auch keine Sache so gut oder so schlecht, dass sie dem Ungläubigen nicht schadete. Der Ungläubige mag einem Wanderer gleichen, der fröhlich pfeift und gut vorankommt – was aber nützt ihm das, wenn er doch in die falsche Richtung läuft? Der Gläubige hingegen mag einem Wanderer gleichen, der sich mühsam voranschleppt und dabei Tränen vergießt – was aber schadet ihm das, wenn er doch in die richtige Richtung läuft? Dürften wir denn ersten „glücklich“ nennen, nur weil er pfeift, und den zweiten „unglücklich“, nur weil er weint? Ist nicht der viel glücklicher, der mit Tränen das gute Ziel erreicht, als der, der fröhlich pfeifend in den Abgrund fällt? Mir ist bewusst, wie schwer es ist, die Dinge auf diese Weise zu betrachten. Aber wenn wir uns daran gewöhnten, könnten wir aufhören, uns über das vermeintliche Glück der Gottlosen zu ärgern. Und wir könnten aufhören, mit dem eigenen Unglück zu hadern. Denn wenn Paulus Recht hat, dann ist es gar nicht so entscheidend, ob unsere konkreten Hoffnungen erfüllt oder enttäuscht werden. Sondern dann kommt es nur darauf an, wie wir mit beiden Erfahrungen umgehen – und auf welcher Bahn sie uns vorantreiben. Glück und Unglück können gleichermaßen Stufen sein, die uns Gott näher bringen. Und darum sollten wir einander nicht vorrangig „Glück“ wünschen, wie es üblich ist. Sondern einen zuversichtlichen Glauben sollten wir einander wünschen, der Glück und Unglück gleichermaßen anzunehmen weiß, weil ihm ja doch das eine wie das andere „zum Besten dienen“ muss…