Die Naivität der Kinder ist nicht zu idealisieren oder zu fördern. Denn ein unrealistisches Bild vom „lieben Gott“ wird später auf dem Müllhaufen landen, auf dem schon das Einhorn und die Zahnfee liegen. Ein Vorbild sind Kinder aber, insofern sie mit dem Klein-Sein kein Problem haben, es normal finden, wenn vieles ihren Horizont übersteigt, und sich unbefangen auf ihre Eltern verlassen. Nicht das Defizitäre am Kind ist „vorbildlich“, sondern seine Bereitschaft, hinsichtlich seiner Defizite auf die guten Mächte zu vertrauen, die ihm überlegen sind!
Ist „Kinderglaube“ eigentlich etwas Gutes? Viele Menschen sehen ihn positiv und sagen: „Oh ja, ich habe mir einen kindlichen Glauben bewahrt!“ Sie sind anscheinend stolz darauf. Und viele andere finden zumindest den Kinderglauben der Kinder „niedlich“, weil sie Kinderseelen für „rein“ und „unschuldig“ halten. Doch gleichzeitig liegt darin eine Abwertung, weil man denkt: „Die Kleinen sind so rührend dumm – die glauben alles, was man ihnen erzählt.“ Einerseits verklärt man das Land der Kindheit und den so „naiven“ kindlichen Glauben. Und andererseits dünkt man sich darüber weit erhaben. Denn man nimmt an, je weniger einer von der wirklichen Welt wüsste, desto „echter“ und „stärker“ könne auch sein Glaube sein. Man findet es irgendwie toll, wenn Kinder jedes Märchen für bare Münze nehmen. Und doch hält man sie aus demselben Grund für ziemlich dämlich. So geben sich die Erwachsenen ungeheuer „kritisch“ und „realistisch“, scheuen sich deswegen aber nicht, ihren Kindern jede Menge Unsinn zu erzählen, den sie selbst nicht glauben – vom Weihnachtsmann, vom Osterhasen und von Kleeblättern, die Glück bringen. Wenn Oma gestorben ist, macht man den Enkeln weis, sie wohnte nun auf einem Stern oder würde von einer Wolke herunterwinken. Denn angeblich will man Rücksicht nehmen auf die zarte Kinderseele! Doch tatsächlich drückt man sich vor einem ernsten Gespräch. Und wenn die Kleinen dann wirklich glauben, der Luftballon mit ihrem Briefchen käme da oben hinter den Wolken bei der Oma an, ergötzt man sich an ihrer kindlichen Naivität. Man behauptet, die Kleinen vor der harten Realität zu schützen. Doch faktisch lügt man sie an, spielt „heile Welt“ und macht selbst Gott zum Bestandteil dieser illusionären Märchenwelt. Denn man präsentiert ihn als gutmütigen alten Mann, der im Himmel wohnt und von dort aus alle vor allem beschützt und allen alles verzeiht, weil er vor lauter Liebe gar nicht anders kann. Die Eltern glauben das natürlich selbst nicht. Viele meinen ja, sie seien zu klug für alle Religion! Sie stellen sich aber vor, es müsse schön sein, wenn man dumm genug ist, noch an eine „heile Welt“ zu glauben, in der die Menschen gut sind, und Gott ganz „lieb“. Dass die Eltern damit aber langfristig großen Schaden anrichten, liegt auf der Hand. Denn wenn der Kinderglaube allzu naiv ist und allzu harmlos, dann wird es Gott eines Tages genauso gehen wie dem Weihnachtsmann, dem Osterhasen und der Zahnfee, die der Heranwachsende ja auch mit zunehmendem Alter und Verstand hinter sich lässt. Und wenn er dann als Erwachsener in Lebenskrisen gerät, wird ihn der kindische Glaube, der ihm vermittelt wurde, ganz gewiss nicht hindurchtragen. Denn in Wahrheit ist Gott keineswegs so harmlos und nett. Er behütet uns nicht vor allem Unglück! Und er erhört auch nicht jedes Gebet! Er mutet uns Verluste und Schmerzen zu! Und vieles, was er entscheidet, bleibt unerklärlich! Wer auf so etwas aber nicht gefasst ist, weil es ihm verschwiegen wurde, sieht sich im Ernstfall getäuscht. Und schon landet sein Gott auf demselben Müllhaufen, auf dem schon der Klapperstorch, das Einhorn und die Drachen liegen. Denn einen erwachsenen Glauben, der an die Stelle des Kinderglaubens treten könnte, haben viele Menschen nicht kennengelernt – und halten sich darum irgendwann für Atheisten. Man hat ihnen als Kind falsche Vorstellungen eingepflanzt – und nun folgern sie, dass Gott, wenn er so nicht ist, wahrscheinlich gar nicht ist. Von naiver Religiosität geprägt meinen sie, Religion sei nur etwas für Naive. Schuld sind aber die Erwachsenen, die ihren Kindern etwas anderes erzählen, als sie selbst glauben, und dabei ihr eigen Fleisch und Blut belügen. Denn eine spezielle Wahrheit „nur für Kinder“ gibt es nicht – und kann es auch gar nicht geben. Der Gott, zu dem die Kinder in Beziehung stehen, ist ja ganz derselbe, zu dem Erwachsene in Beziehung stehen! Und wenn etwas an ihm den kindlichen Verstand überfordert, ist das noch lange kein Grund, es zu verschweigen, denn den erwachsenen Verstand überfordert Gott ja ganz genauso. Kinder brauchen keine „Puppenstubenwelt“ voll illusionärer Harmonie. Die zerbröckelt schon an der Tür der KiTa. Und wenn das Meerschweinchen stirbt, ist es ganz vorbei. Kinder sind auch nicht verstört, wenn etwas ihren Horizont übersteigt, denn das ist für sie eine sehr normale Erfahrung! Warum also ihnen etwas vormachen? Diese Welt ist ganz und gar keine „heile Welt“, sondern eine, die der Heilung dringend bedarf – wäre es anders, hätte Christus nicht kommen müssen! Und nirgends wird das schonungsloser aufgedeckt als in der Bibel, die schon auf den ersten Seiten bezeugt, dass ein tiefer Riss durch unsere Welt geht. Christentum ist nichts für Traumtänzer! Es enthält die Zumutung, in den Spiegel zu schauen und sich der Wirklichkeit des Bösen zu stellen! Und da sollten wir ausgerechnet im Namen des Christentums Kinderseelen in illusionäre Watte packen? Wir sollten ihnen Wahrheiten vorenthalten, von denen die Bibel ganz offen spricht, bis sie eines Tages selbst darauf stoßen, und wir als Lügner dastehen? Ich fürchte, man schont dabei keineswegs die Kinder, sondern die Erwachsenen schonen sich selbst. Sie drücken sich um Gespräche, die sie mit ihren Kindern führen müssten, über den Tod und die Schuld, über die Lüge, das Böse und seine Folgen. Wenn sie aber (weniger dem Kind als sich selbst zuliebe) darüber schweigen, schaffen sie damit das beschriebene Problem. Als Heranwachsende entdecken ihre Kinder, dass Gott doch anders, und die Welt voller Disharmonien ist. Sie verwerfen dann ihren Kinderglauben und können ihn nicht ersetzen, weil sie gar keinen anderen kennen. „Gibt es diesen Gott nicht“, sagen sie, „so gibt es keinen Gott“. Und sie nach so einer Enttäuschung noch an eine biblisch-realistische Gottesbeziehung heranzuführen, ist schwer. Denn gewiss sind alle Menschen in Gottes Hand – aber vieles, was er tut, verstehen wir nicht. Gewiss erfüllt Gott alle seine Zusagen – aber er erfüllt deswegen nicht all unsere Wünsche. Er ist zweifellos der gute Hirte – aber er erspart uns nicht das „Wandern im finsteren Tal“ (Ps 23,4). Wer an ihn glaubt, gelangt ganz sicher in Gottes Reich hinein – aber eine bequeme Reise dorthin wird uns nicht versprochen… Über all das kann man auf kindgerechte Weise mit Kindern reden, denn Kinder sind ja nicht dumm, sondern nur klein. Und soweit es Vater oder Mutter selbst erfahren und verstanden haben, können sie es auch ihrem Kind begreiflich machen. Wer seinen Kindern sagt, dass Gott manchmal streng ist, aber dafür auch unbedingt treu, wird das nie zurücknehmen müssen. Und aus diesem Glauben wachsen die Kinder dann auch nie heraus, wie aus einer zu engen Jacke. Sondern dieser Glaube kann mit dem Verstand mitwachsen, kann reifen und dabei stetig an Tiefe und Erfahrung zunehmen, weil er es vermeidet, eine Karikatur Gottes mit Gott gleichzusetzen – und dann der Karikatur wegen den Glauben zu verwerfen. Tolstoi gab diesbezüglich guten Rat als er schrieb:
„Falls dir der Gedanke kommt, dass alles, was du über Gott gedacht hast, verkehrt ist, und dass es keinen Gott gibt, so gerate darüber nicht in Bestürzung. Es geht allen so. Glaube aber nicht, dass dein Unglaube daher rührt, dass es Gott nicht gibt. Falls du dem Gott nicht mehr glaubst, dem du früher glaubtest, so rührt das daher, dass in deinem Glauben etwas verkehrt war, und du musst dich bemühen, besser zu verstehen, wen du Gott nennst. Wenn ein Wilder aufhört, an seinen hölzernen Gott zu glauben, heißt das nicht, dass es Gott nicht gibt, sondern nur, dass er nicht aus Holz ist.“
Freilich kann man an diesem Punkt einen biblischen Einwand erheben, den ich nicht übergehen will. Denn wenn es keinen speziellen Glauben für Kinder gibt, sondern nur den einen, der auch für Erwachsene taugt – warum stellt Jesus dann gerade die Kinder als Vorbilder des Glaubens dar? Jesus tut das, als seine Jünger die Frage diskutieren, wer im Himmelreich wohl der Größte sei. Vielleicht konkurrieren die Jünger untereinander um den Vorrang, wer von ihnen Jesu bester Schüler ist. Er aber hat an ihrem Geltungsbedürfnis gar keine Freude, sondern ruft (sozusagen als Kontrast zu ihrem Stolz) ein kleines Kind herbei und sagt: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich“ (Mt 18,3-4). Seltsam, denkt man. Haben wir nicht gerade festgestellt, der Glaube müsse stetig „reifen“ und „erwachsen“ werden, um sich im Leben des Erwachsenen zu bewähren? Und nun idealisiert Jesus seinen erwachsenen Jüngern gegenüber doch wieder einen kindlichen Glauben? Ist Naivität am Ende doch etwas Gutes? Nein. Ich meine, wenn man den Zusammenhang beachtet, zeigt sich besser, was Jesus meint. Denn was ihm an den Kindern gefällt, ist durchaus nicht der Mangel an Erfahrung oder Wissen, sondern es ist die Art, wie sie damit umgehen – dass sie nämlich mit dem Klein-Sein kein Problem haben und mit ihrem Klein-Sein ganz im Frieden sind! Es ist für kleine Kinder normal, dass ganz vieles ihren Horizont übersteigt, denn ihnen begegnen ständig Dinge, die sie nicht begreifen. Und anders als bei Erwachsenen empört es sie auch gar nicht, wenn ihre Vernunft an Grenzen stößt, weil sie sich dieser Grenzen bewusst sind. Kinder verstehen längst nicht alles, aber sie haben kein Problem damit, es zuzugeben! Für kleine Kinder ist es auch normal, dass sie ihr Leben nicht „autonom“ durch eigene Leistungen sichern oder gewährleisten können. Sie leben viele Jahre ganz selbstverständlich von der Liebe und Fürsorge ihrer Eltern, nehmen das ganz unbefangen als Geschenk und machen sich wegen ihrer Abhängigkeit keinen Kopf. Für kleine Kinder ist es normal, dass sie Dinge falsch machen, die dann von den Großen korrigiert werden müssen. Sie vertrauen auf Eltern, die alles wieder richten können, und die es auch dann, wenn es Scherben gab, immer noch gut mit ihnen meinen. Überhaupt finden Kinder es normal, dass andere die Kontrolle haben und die Richtung bestimmen, denn sie sind ja klein, und Papa und Mama haben den Überblick. Weil sie Zutrauen haben zur Liebe der Eltern, müssen sie nichts heucheln, müssen keine Ränke schmieden und müssen auch nicht so tun, als hätten sie ihr Leben „im Griff“. Sondern sobald sie überfordert sind, heulen sie – und schämen sich dafür kein bisschen, denn sie erheben ja gar nicht den Anspruch, dieser Welt gewachsen zu sein. Was meint also Jesus, wenn er sagt, wir sollten werden wie die Kinder? Er idealisiert gewiss nicht den kindlichen Mangel an Wissen, Erfahrung und Reife – und auch nicht den Mangel an Kraft und Kontrolle –, sondern die Art, wie Kinder von Vertrauen getragen mit ihren Mängeln umgehen. Denn eben dasselbe Vertrauen sollten sich Erwachsene Gott gegenüber bewahren. Nicht das ist an sich schon gut, wenn unsere Vernunft an Grenzen stößt, aber wenn wir‘s dann normal finden, auf den himmlischen Vater zu setzen, der mehr versteht als wir, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Nicht Abhängigkeit an sich ist gut, aber wenn der Mensch sie gelassen annehmen kann, weil er sowieso nicht sich selbst, sondern Gott für den Garanten seines Lebens hält, dann ist das die richtige Spur. Nicht unsere Fehlleistungen sind irgendwie gut, aber wenn wir sie dem vor die Füße legen, der alles richten und verzeihen kann, dann wird’s gut! Es ist also nicht etwa das Defizitäre am Kind „vorbildlich“, sondern seine Bereitschaft, sich hinsichtlich seiner Defizite auf die guten Mächte zu verlassen, die ihm überlegen sind. Das bedeutet, statt um jeden Preis groß sein zu wollen, auf den zu bauen, der groß ist, statt zwanghafte Kontrolle auszuüben, sich dem zu überlassen, der die Kontrolle hat, und statt Vollkommenheit zu simulieren, sich an dem zu freuen, der vollkommen ist. Es heißt also, nicht zu ruhen in der eigenen Kraft, sondern in seiner, nicht sich selbst Autorität anzumaßen, sondern seiner zuzustimmen, und nicht auf Ansprüche zu pochen, sondern Barmherzigkeit zu empfangen. Denn wie sollte Glaube möglich sein, wenn wir das nicht lernten? Jesus behauptet keineswegs, dass Kinder die besseren Menschen wären. Und er wünscht sich von seinen Jüngern auch kein infantiles Verhalten. Aber das gefällt ihm an den Kindern, dass sie unbefangen klein sein können. Sie wissen von vornherein, dass sie nichts vorzuweisen haben, denken aber auch nicht, dass sie das müssten. Sie leben nicht eigenmächtig, sondern stehen mit leeren Händen da und lassen sich beschenken. Sie sind mit den Großen nicht auf Augenhöhe, empfinden das aber keineswegs als Kränkung. Und an dieser Art, unbefangen klein zu sein, sollen sich Jesu Jünger orientieren, weil das Gott gegenüber die angemessene Haltung ist. Gott gegenüber ganz klein zu sein und damit kein Problem zu haben – das ist die Kunst, die wir uns bei den Kindern abschauen sollen. Und wollen wir das „kindlich“ nennen, dann muss unser Glaube in der Tat „kindlich“ sein. Doch dies Kindliche ist weder kindisch noch naiv, es besteht auch nicht in dieser oder jener Schwäche, sondern in der Bereitschaft, ganz bewusst von der Kraft eines anderen zu leben. Er, dem gegenüber auch der Klügste noch dumm ist und der Älteste ein Neuling, der, dem gegenüber noch der Beste schuldig und der Stärkste ohnmächtig ist – er möge uns lehren, allen Dünkel abzulegen und auf die rechte Weise seine Kinder zu sein!