Der christliche Glaube lehrt uns, am anderen Menschen nicht nur zwei, sondern drei „Schichten“ wahrzunehmen: Da ist die Maske, die er trägt (1). Und da ist der Sünder, der sich dahinter versteckt (2). Doch verborgen unter Schauspielerei und Schmutz ist der Mitmensch auch noch Gottes geliebtes Kind (3). Der Gläubige kann darum niemanden hassen. Er durchschaut zwar die Maske und lehnt die Sünde ab. Den Sünder aber versucht er zu lieben, wie Gott ihn liebt, damit der andere das Ebenbild Gottes werden kann, das zu sein er berufen ist.
Wie kann man Unannehmbares annehmen?
Ich kannte einmal eine alte Frau, die war eine sehr misstrauische Person. Sie vermutete auch hinter einem freundlichen Gesicht stets böse Absichten. Und infolgedessen traute sie nur wenigen Menschen über den Weg. Ich wollte sie ermuntern, ihren Argwohn abzulegen und ein wenig offener auf die Menschen zuzugehen. Doch sie antwortete stets mit ein und demselben Satz: „Man kann den Menschen immer nur vor den Kopf schauen“. Das sollte heißen: Man schaut ihnen nicht hinter die Stirn. Man schaut nicht in den anderen hinein. Und mag er noch so freundlich reden – seine wahren Gedanken bleiben dennoch verborgen... Man kann sich vorstellen, dass der Umgang mit dieser Frau nicht einfach war. Denn Misstrauen ist kein sympathischer Wesenszug. Und doch: Sollte man die Frau deswegen verurteilen? Vielleicht war sie durch bittere Erfahrungen dahin gekommen, überall menschliche Abgründe zu vermuten. Vielleicht war sie erst durch unzählige Täuschungen und Enttäuschungen so geworden. Vielleicht war sie einmal zu oft auf die schöne „Fassade“ und die schönen Worte eines Menschen hereingefallen. Kann man verlangen, dass so ein Mensch wieder vertrauensselig wie ein Kind auf andere zugehen soll? Gibt es eine Rückkehr zur Naivität? Nein. Gerade als Pfarrer konnte ich dergleichen nicht empfehlen. Denn schließlich zeichnet auch die Bibel ein sehr nüchternes Bild vom Menschen. Auch die Bibel rechnet damit, dass sich hinter der Maske unserer Wohlanständigkeit „Abgründe“ verbergen. Keiner ist „gut“, sagt die Bibel, auch nicht einer (Röm 3,9–12!). Wenn das aber stimmt – haben wir dann nicht Grund, misstrauisch zu sein gegen jedermann? In der Tat: Ich meine, dass jene alte Frau in ihrem Argwohn nicht „zu weit“ ging. Aber ich denke, dass sie nicht „weit genug“ gegangen ist. Denn der christliche Glaube lehrt, am anderen Menschen nicht nur zwei, sondern drei „Schichten“ zu unterscheiden:
- Die erste Schicht ist unsere „Fassade“. Es ist der schöne Schein. Es ist die Maske, die jeder Mensch trägt, um bei den anderen einen möglichst imposanten, respektablen oder sympathischen Eindruck zu hinterlassen. Diese Maske zeigt, wie der Mensch gern wäre, bzw. wofür er gern gehalten würde. Mehr aber auch nicht. Denn die erste Schicht ist natürlich nicht das wahre Gesicht eines Menschen. Und nur ein Dummkopf lässt sich davon täuschen.
- Hinter der glänzenden Fassade steht nämlich wirklich ein Sünder. Hinter unserer Maske verbergen wir Missgunst und Egoismus, Bequemlichkeit und Neid, Eitelkeit und Schwäche. Und wer das von sich selbst weiß, darf getrost von sich auf andere schließen. Denn „Schein“ und „Sein“ fallen auch bei den anderen auseinander. Auch die anderen sind innerlich viel jämmerlicher als sie nach außen hin zugeben. Insofern hatte jene alte Frau also durchaus Recht. Nur ging sie nicht weit genug. Denn wenn wir unseren Mitmenschen durchschauen, seine Maske herunterreißen und es dabei bewenden lassen, dann sind wir erst den halben Weg gegangen! Versteckt unter der zweiten Schicht gibt es nämlich noch eine dritte:
- Hinter seiner schönen Maske ist unser Mitmensch ein Schuft, ein Schwächling und Sünder – o, ja! Aber tief drinnen in dem Sünder steckt auch noch das Kind Gottes, das dieser Mensch ursprünglich war, und das zu sein er immer noch berufen ist. Denn Gott hat nicht aufgehört, dieses Kind zu lieben. Vielleicht ist es inzwischen hässlich, verkrümmt und verzerrt. Vielleicht ist es durch die eigene Schuld beschmutzt und durch Bosheit entstellt. Vielleicht ist die Signatur des Schöpfers kaum mehr zu erkennen. Und doch ist dieser Mensch immer noch dazu bestimmt, ein Ebenbild Gottes zu werden.
Mag sein, dass er selbst das nicht weiß – und auch nichts davon wissen will. Dennoch muss mir, wenn ich mit einem Menschen zu tun bekomme, auch seine Bestimmung bewusst sein. Ich muss immer alle drei „Schichten“ kennen und berücksichtigen. Denn wie sollte ich einem Menschen gerecht werden, wenn ich ihn einzig und allein auf seine Maske oder auf seine Sünde hin ansprechen wollte? Wie sollte ich jemandem gerecht werden, wenn ich das Wichtigste an ihm nicht wahrnehme? Es ist das Vorrecht der Kinder, an ihren Mitmenschen nur die erste Schicht zu sehen. Denn sie verstehen noch nichts von der Kunst der Verstellung. Kinder dürfen naiv sein. Ein Erwachsener aber, der an den anderen nicht mehr sieht als nur die Fassade, ist ein Schaf. Es zeugt von kritischem Verstand, wenn jemand neben der ersten auch die zweite Schicht zu sehen vermag. Denn einem nachdenklichen Menschen bleiben die Abgründe der Seele nicht verborgen. Er kennt sich selbst – und lässt sich darum auch von den anderen nicht so leicht täuschen. Nur: Wie kann so ein Mensch der Menschenverachtung, dem Argwohn und dem Zynismus entgehen? Wie kann er, wenn er die dunklen, verborgenen Seiten der Menschen kennt, diese Menschen dennoch respektieren? Kann der Klarsichtige etwa zur Naivität zurückkehren? Nein. Kein Weg führt zurück. Aber ein Weg führt voran. Wenn ich nämlich im Lichte des Evangeliums am anderen auch die dritte Schicht entdecke: Verborgen unter viel Schauspielerei, verborgen unter viel Schmutz, ist mein Mitmensch auch noch Gottes Kind. Trotz allem, womit er sich selbst entwürdigt, gilt ihm immer noch die Liebe Gottes. Diese Liebe verleiht ihm Würde. Und solange ich von dieser Liebe weiß, werde ich den Menschen nicht hassen können. Vielmehr werde ich ihn illusionslos und trotzdem liebevoll anschauen, wie Gott es auch tut. Ja: Glauben heißt, den Mitmenschen mit Gottes Augen sehen. Ihn aber mit Gottes Augen sehen, heißt, ihm helfen wollen. Ich muss deswegen nicht billigen, was der andere tut. Doch solange Gott nach diesem Menschen fragt, habe ich kein Recht, ihn zu verachten. Ich muss seine Fehler nicht beschönigen und nicht entschuldigen. Doch weil Christus ihn erlösen will, kann ich ihn nicht verdammen. Er bleibt trotz allem Gottes Kind. Und wenn ich ihn so sehe, werde ich ihn auch entsprechend behandeln. Denn „Glauben“ heißt, dem Beispiel Jesu zu folgen. Und Jesus hat, wo immer er es mit Menschen zu tun bekam, versucht, das Gotteskind in ihnen zu Tage zu fördern. Natürlich nimmt Jesus die Menschen zuerst in der Rolle wahr, die sie nach außen hin spielen. Aber er fällt auf ihr Rollenspiel nicht herein. Durch alle Masken hindurch sieht Jesus den stolzen und verstockten Sünder in ihnen. Er entschuldigt nichts von dem, was er sieht. Aber er verachtet sein Gegenüber auch nicht. Er lehnt die Sünde ab. Aber er lehnt deswegen den Sünder nicht ab. Denn Jesu Blick reicht noch einmal „tiefer“. Der Mensch mag seine gute Bestimmung noch so sehr entstellt, vergraben und verschüttet haben – Jesus verliert sie dennoch nicht aus dem Blick. Jesus sieht, wie Gott diesen Menschen gemeint hat. Und er kann darum auch die annehmen, die sich selbst für unannehmbar halten. Ja: Jesus spricht die Menschen auf ihre dritte, ihre verborgenste Dimension an. Er behandelt sie nicht nach dem schönen Schein, den er durchschaut. Er behandelt sie auch nicht als die Sünder, die sie tatsächlich sind. Sondern er behandelt sie als die künftigen Kinder Gottes, die sie werden sollen. Und nur so ist es zu erklären, dass die Menschen sich von Jesus zugleich „durchschaut“ und „angenommen“ fühlten. Viele haben das damals als heilsam erfahren. Und genauso heilsam ist es auch heute, wenn es uns gelingt, dem Vorbild Jesu zu folgen und unseren Mitmensch mit Gottes Augen anzuschauen. Wir betrachten ihn dann nicht als den Erfolgsmenschen, der er zu sein vorgibt. Und auch nicht als den schäbigen Sünder, der er tatsächlich ist. Sondern wir versuchen, in ihm das Ebenbild und das Kind Gottes zu sehen, das zu werden er berufen ist. Wenn mir das gelingt, dann sehe ich nicht mehr die geschwätzige Nachbarin, die mir auf die Nerven geht – sondern ich sehe ein einsames Geschöpf, das dem Schöpfer am Herzen liegt. Ich sehe dann in dem Bettler an der Haustür nicht mehr den sozialen Bodensatz, sondern sehe in ihm einen Bruder, für den Christus sein Blut vergossen hat. Und selbst wenn mir ein tyrannischer Vorgesetzter gegenübertritt, so sehe ich auch in ihm ein Kind Gottes, das zur Gemeinschaft mit dem Vater berufen ist. Die neue Perspektive verändert dann mein Verhältnis zu diesen Menschen. Und sie verändert auch mein Verhalten. Denn schaue ich erst einmal durch Gottes Augen, so ist es plötzlich ganz unwichtig, ob ein Mensch meiner Liebe wert ist, ob mir seine Nase gefällt und ob er meine kleinen Pläne stört. Entscheidend ist dann nur noch, dass ihm Gottes Liebe gilt. Schaue ich mit Gottes Augen in die Welt, so beginne ich zu bejahen, was Gott bejaht, zu achten, was er achtet, und zu lieben, was er liebt. Dann ist jeder Mensch geadelt dadurch, dass Gott ihn gewollt hat. Und jeder ist kostbar, weil Gott ihn in der Schar der Erlösten nicht missen will. Kann ich auch nur einen von denen verfluchen, die Gott doch segnen will? Kann mir irgendeiner gleichgültig sein, wenn er Gott nicht gleichgültig ist? Kann ich feindselig sein, wenn Christus dieses Menschen Freund sein will? Nein. Und darum hat jene alte Frau am Ende doch Unrecht. Es stimmt zwar, dass unser natürliches Auge dem Mitmenschen „immer nur vor den Kopf schauen“ kann. Der Glaube aber sieht den Mitmenschen mit Gottes Augen. Und er geht damit über den berechtigten Argwohn noch einen Schritt hinaus. Er sieht noch einmal tiefer. Und er bringt dadurch ein Kunststück zuwege, das ansonsten unmöglich wäre: Durch den Glauben können wir die Menschen lieben, ohne uns Illusionen über sie zu machen.