Wenn kritische Reflektion dazu führt, dass einem Mensch alle erdenklichen Perspektiven gleich gültig und gleich wahr erscheinen, wird ihm Skepsis zur Falle. Denn er ist dann zwar mächtig darin, Gewissheiten zu hinterfragen, aber außer Stande, Gewissheit zu gewinnen. Und dieses Missverhältnis stört seine Selbstfindung. Denn wer keinen weltanschaulichen Rahmen gelten lässt, hat auch keinen, in dem er sich selbst verorten könnte. Er hält sich für alles offen – und bleibt gerade dadurch leer. Argumentativ ist ihm nicht zu helfen. Aber Gott kennt andere Wege.
Robert Musil hat 1930 einen Roman geschrieben, dessen Titelfigur den Geist unserer Zeit sehr treffend wiedergibt. Er ist „der Mann ohne Eigenschaften“. Und sein Problem besteht darin, dass er zwar durchaus begabt ist und willig, aus seinem Leben etwas zu machen, sich zugleich aber jeder Festlegung entzieht und sich für neue Optionen stets offen hält. Er sieht immer viele Wege vor sich, die alle ihre Vorzüge haben. Er weiß nicht, warum er sich einem davon verschreiben sollte. Und dementsprechend hat er auch ein ironisch-gebrochenes Verhältnis zu dem, was man „Wahrheit“ nennt. Er bejaht keine Aussage, ohne zugleich das Gegenteil für möglich zu halten. Er weiß: man kann es immer auch anders sehen. Und so bekennt er sich zu nichts derart, dass man ihn dabei behaften könnte. Er ist geistig beweglich und kann sich stets in eine andere Perspektive hineinversetzen. Eben das aber hindert ihn, eine davon zu „seiner“ Perspektive oder auch nur zur „maßgeblichen“ zu erklären. Viele Standpunkte sind denkbar! Je nachdem, welchen man gerade einnimmt, erscheint alles ganz anders! Und so kann man die Lebenshaltung dieses Menschen nur „unverbindlich“ nennen. Denn er ist außerstande, sich zu irgendetwas ernsthaft zu bekennen. Und er nimmt das, was ist, auch nicht wichtiger als das, was sein könnte oder möglich wäre. Er hat keinen festen Maßstab, den er seinen Bewertungen zugrunde legt. Und so wird alles Eindeutige umgehend in Vieldeutigkeit überführt und jede Pflicht mit Vorbehalten versehen. Jede Rolle, die er übernimmt, könnte er gegen eine andere tauschen. Jede Festlegung ist provisorisch. Alles scheint ihm zufällig. Und nichts sagt er so, dass er es nicht im nächsten Satz zurücknehmen oder relativieren könnte. Eine Romanfigur Musils drückt es so aus: „Jede schlechte Handlung wird ihm in irgendeiner Beziehung gut erscheinen. Immer wird für ihn erst ein möglicher Zusammenhang entscheiden, wofür er eine Sache hält. Nichts ist für ihn fest. Alles ist verwandlungsfähig, Teil in einem Ganzen, in unzähligen Ganzen, die vermutlich zu einem Überganzen gehören, das er aber nicht im geringsten kennt. So ist jede seiner Antworten eine Teilantwort, jedes seiner Gefühle nur eine Ansicht, und es kommt ihm bei nichts darauf an, was es ist, sondern nur auf irgendein danebenlaufendes ›wie es ist‹…“ (1. Buch, Kap. 17)
Musils „Mann ohne Eigenschaften“ nimmt damit die umfassende Skepsis vorweg, die heute unter „Intellektuellen“ als selbstverständlich gilt. Er traut nur dem eigenen Urteil – und auch diesem nicht wirklich. Jede Weltanschauung, die er in Erwägung zieht, wird ihm von vernünftigen Zweifeln zerschossen. Und so verharrt er im Dauerdiskurs und durchdenkt viele Möglichkeiten, ohne je eine wirklich zu nutzen. Er verbringt sein Leben damit, nicht etwa dies oder das, sondern „niemand“ zu sein. Er verharrt in Unbestimmtheit und lässt notgedrungen auch die eigene Identität in der Schwebe. Denn worin sollte er sich verorten? Entweder ist ihm keine Weltanschauung erschwinglich – oder er hat deren immer gleich viele bei der Hand! Eine der möglichen zu wählen, sieht er sich nicht im Stande, denn an jeder Weltsicht missfällt ihm, dass sie all die anderen nicht mit einschließt. Und so betrachtet er sie alle aus sicherer Distanz, ohne irgendeiner Geltung zuzuerkennen. Aber ohne einen Referenzrahmen vermag er natürlich auch den eigenen Standort nicht zu bestimmen. Da er sich zu nichts bekennt, ist er ein Mann, der jederzeit „auch anders könnte“. Seine geistige Heimat besteht in der Erkenntnis, keine zu haben. Und wenn er sich trotzdem mit „Ansichten“ schmückt wie mit geliehenen Kleidern, dann nur, um nicht nackt dazustehen. Keine Ansicht ist so sehr „seine“, dass er sie nicht wiederrufen könnte. Und da er gelernt hat, die Zeit der großen, sinnstiftenden Erzählungen sei vorbei, entbehrt sein Leben eines Kontextes, innerhalb dessen er es deuten könnte. Nicht nur die Welt – auch seine eigenen Einfälle und Wünsche scheinen ihm zusammenhangslos! Wen wundert’s also, dass er Schwierigkeiten hat, mit seinem Dasein und seinen Fähigkeiten etwas anzufangen? Auf die Bühne des Lebens gezerrt muss er äußerlich eine Rolle spielen, kommt aber innerlich über die Mentalität eines Zuschauers nicht hinaus. Er ist nicht heiß und nicht kalt, nicht Fisch und nicht Fleisch. Sein Gesicht gleicht einem unscharfen Foto – der Ausdruck bleibt unbestimmt. Und da er kein Ziel kennt, das beständiges Streben lohnte, lebt er wie mit angezogener Handbremse: als ein Mensch, der vieles sein könnte und doch nichts ist, der sich stets offen hält und gerade dadurch leer bleibt, der für nichts stehen und dennoch etwas bedeuten will. Da sein Denken zu nichts Sicherem führt, meint er, das Ziel des Denkens läge wohl schon im Nachdenken selbst. Aber liegt das Ziel des Denkens nicht im Ergebnis, im begründeten Urteil, in der erlangten Position und der getroffenen Entscheidung? Die Lage dieses Menschen ist zu traurig, als dass man spotten dürfte. Aber so funktioniert das Leben nun mal, dass man seine Wahlfreiheit nur behält, wenn man sie nicht nutzt, und sie nicht nutzen kann, ohne sie eben dadurch zu verlieren. Jede Entscheidung verwirft eine Unzahl von Alternativen und Chancen, die sich kein zweites Mal bieten. Doch andererseits: Wenn ich die Möglichkeit zur Entscheidung nicht nutze – wozu habe ich sie dann? Gewiss ist es schön, sich frei zu fühlen! Aber wenn ich meine Wahl gar nicht treffe – wofür brauche ich dann Freiheit? Man wird diesen Kuchen verlieren, wenn man ihn aufisst. Aber ist er nicht genau dazu gebacken worden? Und würde er nicht, wenn man sich nie entschlösse, auf weniger nützliche Art verloren gehen – weil Kuchen irgendwann schimmelt? Seltsamer Weise betrügt sich gerade der um seine Freiheit, der sie nicht durch Gebrauch verlieren will. Um sich maximale Möglichkeiten offen zu halten, bleibt er unbestimmt, verzichtet dabei aber auf den Menschen, der er durch seine Wahl werden könnte. Er beansprucht Bedenkzeit, die das Leben nicht gewährt. Und am Ende steht er da wie jener Mann in Kafkas Erzählung, der immer vergeblich vor dem Tor wartet, um vom Wächter eingelassen zu werden, und zuletzt sterbend erfährt, dass dieser Eingang einzig und allein für ihn bestimmt war – und nun, da er ihn nicht genutzt hat, endgültig geschlossen wird. Der Charakter solcher Menschen ist wie mit Bleistift gezeichnet. Und selbst an diesen blassen Linien radieren sie ständig herum. Sie wollen sich nicht mit einer Überzeugung belasten, bevor nicht das Risiko eines Irrtums durch stichhaltige Beweise ausgeschlossen ist. Und weil dieser Fall nie eintritt, leben sie stets „unter Vorbehalt“. Mangels eigener Orientierung sind sie für vieles zu haben. Sie führen einen Namen, besitzen aber keine Identität. Sie finden Religionen interessant, bekennen aber keinen Glauben. Selbst in ihrer Leidenschaft bleiben sie variabel. Und wenn sie sterben, weiß keiner so wirklich, was man auf ihren Grabstein schreiben könnte...
Will ich damit aber sagen, der „Mann ohne Eigenschaften“ hätte Unrecht? Im Gegenteil! Seine Tragik besteht gerade darin, dass er an einem zentralen Punkt völlig Recht hat! Als kritischer Geist steht er seinem eigenen Orientierungsvermögen mit tiefer Skepsis gegenüber. Und er traut der menschlichen Vernunft nicht zu, letzter Wahrheiten habhaft zu werden! Er relativiert jedes seiner Urteile, weil er sich nicht hinreichend kompetent fühlt. Und er entscheidet nie endgültig, weil er spürt, dass ihm verlässliche Maßstäbe fehlen. In alledem hat er durchaus Recht und ist auf der Höhe der Zeit: als Mensch kann man sich nicht trauen! Als wahres Kind der Aufklärung wendet man die kritische Vernunft auch auf die Vernunft selbst an, erschrickt über ihre mangelnde Reichweite – und hat sich damit selbst in einen Zustand der Lähmung versetzt. Denn einer anderen Autorität zu vertrauen als der eigenen Vernunft, geht dem Kind der Aufklärung gegen die Ehre. Ist die Vernunft aber erst mal ihrer eigenen Kritik erlegen, bleibt nichts mehr übrig, woran der Mensch sich orientieren könnte. Und eben dies (aus Klugheit desorientiert zu sein) gerät dem Menschen zu einer ernsten Störung seiner Selbstfindung. Wenn er auch oberflächlich „funktioniert“, ist er doch in einem tieferen Sinne nicht lebenstüchtig. Er hat verinnerlicht, dass ein redlicher Denker im Himmel und auf Erden nichts gelten lässt, als nur, was seine eigene Vernunft erschlossen, geprüft, eingesehen und für gut befunden hat. Er ist überzeugt, keine Instanz dürfe Autorität beanspruchen, wenn ihr diese Autorität nicht von ihm selbst als kritischem Subjekt zugebilligt und verliehen wurde. Wahr soll nur sein, woran er nicht zweifeln kann! Weil er aber faktisch an allem zweifeln kann, steht er zeitlebens ohne Wahrheit da. Er vermag alles zu kritisieren, vermag aber (abgesehen von dieser Kritik) nichts zu begründen. Er ist mächtig darin, Gewissheiten zu hinterfragen, aber außer Stande, Gewissheit zu gewinnen. Und dieses Missverhältnis wird ihm zum Schicksal. Denn er hat die eigene Vernunft zum obersten Souverän erhoben. Er muss nun erleben, dass diese Gottheit nicht leistet, was er sich von ihr versprach. Und dennoch kommt er aus der Falle nicht mehr heraus. Denn niemals würde die Vernunft zugeben, dass etwas über die Vernunft ginge. Und ginge tatsächlich etwas über die Vernunft, wär’s ihr schon deshalb nicht erschwinglich und höchst verdächtig…
Nun würde ich zu gern das Dilemma einer Lösung zuführen und die durch Nachdenken entstandene Verstrickung auf demselben Wege entwirren. Doch muss ich ohne Umschweife gestehen, dass es hier keine Lösung gibt, sondern nur Erlösung. Es gibt keinen argumentativen Weg, der aus dem Labyrinth herausführte. Denn von der Überhöhung der eigenen Vernunft kann man nur geheilt werden, wenn jemand den Götzen von seinem Sockel stürzt. Der moderne Mensch sitzt in einer Falle selbstverschuldeter Blindheit und kann sich an seiner stolzen Vernunft so wenig orientieren wie der Wanderer an der eigenen Nasenspitze. Besser wird‘s aber erst, wenn Gott ihn aus dieser Bahn wirft, ihn bei der Hand nimmt, ihn zu führen beginnt – und der ratlose Mensch sich raten lässt von Gott. Des Menschen Entschluss kann das nicht sein, denn die Vernunft gibt so etwas nicht her, dass sie sich selbst relativierte! Aber wenn es Gottes Entschluss ist, unserem menschlichen Geist durch seinen Geist beizuspringen und ihn aufzuklären über die Grenzen der Aufklärung – dann kann es gelingen. Denn freilich hat er Recht, der Mann ohne Eigenschaften! Dem Menschen fehlen für seine wichtigsten Entscheidungen die Kompetenzen und die Maßstäbe. Aber Gott fehlen sie keineswegs – und Gottes Wort kann man befragen! Freilich können wir unserer Vernunft, unseren Sinnen und unserem Urteil nicht trauen. Aber Gott hat den Überblick, der uns fehlt – und gibt gute Weisung! Freilich fehlt uns die Einsicht in den großen Plan – und soweit wir sehen, könnte immer auch alles „ganz anders“ sein. Aber bei Gott gibt’s weder Zufall noch Überraschung – und was er fügt, ist ebenso notwendig wie weise! Kennen wir uns auch selbst nicht, kennt er uns doch längst. Und wählen wir verkehrte Wege, lenkt er doch unseren Schritt. Wo wir zaudern und zagen, hat Gott längst für uns entschieden. Und während wir nicht wissen, wo wir hingehören, hat er uns schon verortet. Vor ihm müssen wir nichts „aus uns machen“, weil wir durch ihn schon längst etwas sind. Und fehlt‘s uns an Orientierung, so doch nicht an seiner Vorsehung. Natürlich lehrt uns das nicht die eigene Vernunft! Wenn’s passiert, verdanken wir das allein dem Geist Gottes! Der aber kehrt dann die Verhältnisse gründlich um – und die allzu Flexiblen, die zuvor alles genauso richtig fanden wie das Gegenteil, gewinnen plötzlich von Gott her das Profil, das sie „aus bloßen Vernunftgründen“ zu wählen nicht wagen durften. Plötzlich sind wir nicht mehr „offen für alles“, sondern nur noch für das, was Gott gefällt. Unter tausend Ansichten gibt’s nur noch eine Wahrheit, weil Gott selbst die Wahrheit ist. Und unter zahllosen Möglichkeiten ist nur diejenige gut, die seinem Willen entspricht. Alles ist genau das, was es in Gottes Augen ist. Und kein Maßstab gilt mehr, den er nicht gesetzt hätte. Unser Standpunkt ist da, wo Gott uns in seinem Plan verortet. Und nichts zählt, als nur die Treue, mit der wir dort unseren Auftrag erfüllen. Denn das Leben ist kein Taumeln mehr, sondern hat eine Richtung bekommen. Über alles, was wir zum Leben und Sterben wissen müssen, finden wir Aufklärung in der Hl. Schrift. Unser eigenes Dasein verstehen wir als Teil der dort erzählten Geschichte. Und aus diesem Kontext ergibt sich dann auch seine Bedeutung: Unser Wesen besteht darin, Gottes zu bedürfen. Und unsere Bestimmung ist, seine Nähe zu suchen. Glaube erscheint dann aber nicht mehr als gewagte „Option“, sondern Glaube bedeutet schlicht, nicht mehr anders zu können. Der Mensch wählt diese Perspektive nicht, sondern wird von ihr ergriffen. Maßgeblich ist ihm von da an seine Gottesbeziehung. Und wenn die auch manches ausschließt, was sich nicht mit ihr verträgt, gibt sie dem Menschen doch gerade so verbindlichen Halt und festen Stand. Weil der Christ weiß, dass Gott barmherzig über ihn entschieden hat, muss er auch selbst nicht mehr zaudern. Er geht durch Gottes Tür, solange sie offen ist. Glaubend hat er bei Gott zu sich gefunden – und will dann auch öffentlich unter dieser Flagge segeln. Glaube ist das Statement, das seine persönliche Unbestimmtheit überwindet. Statt zu improvisieren, beginnt er zu leben. Statt Neutralität zu wahren, ergreift er Partei. Und statt ängstlicher Distanz, zeigt er sein Gesicht.
Das ist dann ein großer Segen! Und wem wir dazu verhelfen könnten, würden wir den Gefallen gern tun. Aber wie gesagt: die Befreiung erfolgt nicht durch Argumente. Es gibt keinen gedankliche Ausweg aus der Skepsis, den man nur gut genug erklären müsste. Sondern es bedarf der Erlösung durch Gottes Zugriff, der den Menschen aus der falschen Bahn herauswirft. So haben wir kein Rezept, wie einer den Zustand der Indifferenz überwinden könnte. Aber die Möglichkeit, sich danach zu sehnen und Gott darum zu bitten – die hat jeder jederzeit. Und man sollte sie nutzen. Denn die Welt ist kein Maskenball, bei dem man immer wieder das Kostüm wechseln könnte. Sie lässt auch nicht zu, dass wir neutral bleiben. Und die Zeit, die eigene Position zu klären, ist durch den Tod eng befristet. Darum gebe Gott, dass noch möglichst viele der Falle der skeptischen Indifferenz entkommen und beginnen ein entschiedenes Leben zu führen. Denn wer mit dem Leben erst anfangen will, wenn’s keine Risiken mehr birgt, wird es verpassen. Und wer an der Himmelpforte nicht zu klopfen wagt, obwohl er eingeladen ist, wird vielleicht vergeblich davor warten.