Obwohl die verschiedensten Anteile unserer Person am Glauben beteiligt sind (Wille, Gefühl, Erfahrung, Vernunft, etc.), lässt sich der Glaube weder auf eine, noch auf die Gesamtheit dieser Funktionen zurückführen. Glaube ist vielmehr eine facettenreiche Reflektion göttlichen Lichtes: Wie ein Spiegel Licht nicht erzeugen, sondern nur reflektieren kann, so kann unsere Seele das Licht des Evangeliums nicht erzeugen, sondern nur reflektieren – und eben diese Reflektion nennen wir „Glaube“.
Was ist Glaube überhaupt?
Auf der Suche nach sinnerfülltem Leben streben viele Menschen nach dem Glauben, weil sie vom Glauben befriedigende, sinnstiftende Antworten erwarten. Aber glauben wollen heißt noch nicht glauben können. Und oft ist auch gar nicht klar, was Glaube überhaupt ist. Glauben – wie macht man das? Was tut einer, wenn er glaubt? Darüber Auskunft zu geben, ist schon deshalb schwer, weil uns die Umgangssprache aufs Glatteis führt. In der Alltagssprache verwenden wir das Wort „glauben“ nämlich dann, wenn wir etwas vermuten, uns der Sache aber nicht sicher sind. Wir sagen z.B. „Ich glaube, es wird bald regnen“ oder „Ich glaube, unser Nachbar hat ein neues Auto“. Übertragen wir diesen Sprachgebrauch aber auf den christlichen Glauben, so entsteht sofort ein schiefes Bild. Denn der christliche Glaube hat genau das, was „Vermutungen“ nicht haben: Er hat Gewissheit. Und die muss er auch haben, denn sonst könnte man sich nicht im Leben und im Sterben auf den Glauben stützen. Sollte man also das Moment der Gewissheit stärker hervorheben, indem man sagt, der christliche Glaube sei eine Art „Wissen“?
Glaube ist (k)ein Wissen
Das Wesen des Glaubens als „Wissen“ zu bestimmen, liegt insofern nahe, als der Glaube ja beansprucht, Erkenntnis zu vermitteln. Schließlich muss man etwas von Gott wissen, um an ihn glauben zu können. Der Glaube kommt ohne das Denken nicht aus, denn das Evangelium kann nur dort Glauben wecken, wo man seine Botschaft versteht – und wer könnte verstehen ohne Verstand? Ohne Denken geht es also nicht. Und doch ist unsere Frage nach dem Wesen des Glaubens damit noch nicht beantwortet. Wer den Glauben aus dem Denken herleiten wollte, käme in Schwierigkeiten. Denn wäre Glaube nichts weiter als eine spezielle Art von Wissen, so wäre ja zu erwarten, dass die klügsten und gebildetsten Menschen automatisch auch immer die frömmsten wären. Das ist aber nicht so. Und ein zweites Problem kommt noch dazu: Wäre der Glaube nur eine Sache des Verstandes, so müsste er lehr- und lernbar sein wie das Einmaleins. Auch das widerspricht der Erfahrung. Wir machen nämlich Erfahrungen mit Gott, nicht wenn es unsere Wissbegier fordert, sondern wenn es ihm gefällt. Müssen wir also folgern, dass der Grund des Glaubens in solchen besonderen Erfahrungen liegt?
Glaube ist (k)eine Erfahrungssache
In diesem zweiten Anlauf scheinen wir einer Wesensbestimmung des Glaubens schon sehr nahe zu kommen. Denn wenn in der Bibel von „Glaube“ die Rede ist, dann hat das immer mit konkreten Erfahrungen zu tun. Abraham, Isaak, Jakob, Mose, David, Jesaja und die anderen Großen der Bibel bekennen sich schließlich nicht zu irgendeinem abstrakten „höchsten Wesen“, sondern zu dem Gott, der sich in der Geschichte Israels als mächtig erwiesen hat. Man theoretisiert in der Bibel nicht über Gott, sondern erzählt von seinen ganz konkreten großen Taten: Wie er Jakobs Söhne zu einem großen Volk werden ließ, wie er sie aus der Knechtschaft in Ägypten herausführte, wie er am Sinai seinen Bund mit ihnen schloss und ihnen das gelobte Land zu Eigen gab. Der Glaube Israels wuchs, so wie das Vertrauen zu einem guten Freund wächst, wenn man immer wieder gute Erfahrungen mit ihm macht. Und viele Christen bestätigen, dass auch ihr eigener Glaube auf diese Weise entstanden ist. Sie erzählen dann von ihrer persönlichen Geschichte mit Gott: Wie Gottes Wort sie gepackt hat und ihrem Leben eine Richtung gab, wie Gott ihnen Schweres auferlegte und ihnen hindurch half, wie er Gebete erhörte und wie er seine Nähe spüren ließ. Für den, der solches zu berichten weiß, sind seine Erfahrungen mit Gott eindeutig und beweiskräftig. Doch Außenstehende sind oft skeptisch und wenden ein, dass man Erlebnisse verschieden deuten kann. Dann heißt es schnell: „Du verstehst deine Erfahrungen nur als Erfahrungen Gottes, weil du sie so verstehen willst.“ Als Glaubender fühlt man sich da vielleicht unverstanden. Man muss aber wohl zugeben, dass Glaube auch etwas damit zu tun hat, glauben zu wollen. Denn wer Gottes Wirken nicht sehen will, der sieht es in der Regel auch nicht. Wer will, kann sich die Welt erklären, ohne dabei die Hypothese „Gott“ einzubeziehen. Und das wirft unsere Wesensbestimmung des Glaubens wieder über den Haufen. Wenn es nämlich aufs Glauben-wollen ankommt, dann scheint der Glaube doch weniger auf Erkenntnissen und Erfahrungen als auf einem Willensakt zu beruhen.
Glaube ist (k)eine Frage des Wollens
Wer den Glauben als Willensakt deuten will, kann dafür biblische Belege beibringen. Denn wir werden in der Heiligen Schrift vielfach aufgefordert, uns für den Glauben zu entscheiden. Auch Jesus appelliert an unseren Willen und sagt: „Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“, „Glaubt an das Licht, solange ihr's habt!“, „Glaubt an Gott und glaubt an mich!“. Die Erfahrung freilich zeigt, dass es nicht immer leicht ist, dieser Einladung nachzukommen. Das wissen die am besten, die glauben wollen, es aber einfach nicht können. Ihnen nützt kein Bekehrungseifer und kein moralischer Druck nach dem Motto: „Du kannst es! Du musst es nur wirklich wollen!“. Nein, in der bitteren Erfahrung, nicht glauben zu können, bestätigt sich nur, was die Bibel lehrt: Dass Glaube nichts ist, was man sich so einfach nehmen oder erzwingen könnte. Er ist nämlich nie das Produkt unseres eigenen Entschlusses, sondern immer ein Resultat göttlichen Tuns. Der Glaube ähnelt darin tiefen Gefühlen wie Liebe oder Vertrauen. Denn so wie wir unserem Herzen nicht befehlen können zu lieben oder zu vertrauen, so können wir uns auch nicht selbst befehlen zu glauben. Und damit ist schon wieder ein Versuch gescheitert, das Wesen des Glaubens zu bestimmen: Der Glaube ist keine Sache des Willens. Was ist er aber dann? Wenn das Wesen des Glaubens nicht darin liegt, dass man etwas will – liegt es dann vielleicht darin dass man etwas anerkennt – also im „Für-wahr-halten“ dogmatischer Sätze?
Glaube ist (k)ein „Für-wahr-halten“
Viele Menschen denken so und meinen, das sei das Wesentliche am Glauben, dass ein Mensch die biblischen Berichte für Tatsachenberichte und jeden Satz des Glaubensbekenntnisses für wahr hält. Doch ist auch das ein Missverständnis. Denn der Glaube schließt zwar ein bestimmtes Verständnis von Gott, der Welt und dem Menschen ein. Doch ist der Glaube deswegen nicht Glaube an Sachverhalte und auch kein einsames Beharren auf Überzeugungen. Denn wenn wir nur die Glaubensartikel aufzählen und „Für-wahr-halten“, tun wir nichts, was der Teufel nicht auch täte. Auch er hält es für wahr, dass Gott die Welt schuf, dass Christus starb und auferstand usw. – er muss diese Sätze anerkennen, einfach weil sie wahr sind. Doch solches „Für-wahr-halten“ von Fakten und Sachverhalten nützt dem Teufel nichts und macht ihn gewiss nicht zum Christen. Denn ihm fehlt das Entscheidende: Zu der Erkenntnis, dass Gottes große Taten einen Raum der Gnade eröffnet haben, muss die Bereitschaft hinzukommen, in diesen Raum auch persönlich einzutreten. Es genügt nicht, Gottes Gnade in korrekten Glaubenssätzen zu bezeugen. Wer glauben will, der muss bereit sein, seine ganze Existenz auf diese Gnade zu gründen, der muss mit Haut und Haar und Leib und Seele ein Wagnis eingehen – und das ist noch etwas anderes, als bloß bestimmte Sätze für wahr zu halten.
Glaube ist ein „ganzheitliches“ Geschehen
Sind wir also auch mit unserem letzten Versuch, das Wesen des Glaubens zu beschreiben, nun endgültig gescheitert? Es sieht fast so aus. Denn nach allem, was wir zusammengetragen haben, scheint die Verwirrung nun komplett. Der Glaube hat etwas mit Wissen zu tun – er geht aber im Wissen nicht auf. Der Wille des Menschen ist am Glauben beteiligt – doch verfügt der Wille nicht über den Glauben. Erfahrungen und Gefühle spielen eine Rolle – und doch lässt sich der Glaube nicht einfach aus ihnen ableiten. Ist der Glaube demnach eine ganz diffuse und nebulöse Angelegenheit? Nein. Unsere Versuche, den Glauben auf einzelne Aspekte unseres Seelenlebens zurückzuführen, mussten scheitern, weil der Glaube sich in keiner der genannten Schubladen unterbringen lässt: Der Glaube sitzt nicht nur im Kopf und nicht nur im Herzen und nicht nur im Willen – er ist das, was man einen „ganzheitlichen“ Vollzug nennt. Er ist ein Akt der ganzen Person, an dem Vernunft und Wille, Erkenntnis, Erfahrung und Gefühl gleichermaßen beteiligt sind. Dabei ist jede Faser unseres Seins mit in den Glauben einbezogen, und doch bringen diese Fasern weder einzeln noch gemeinsam den Glauben hervor.
Glaube ist eine Reflektion göttlichen Lichtes im Spiegel unserer Seele
Es verhält sich nämlich mit den verschiedenen Facetten unseres Seelenlebens nicht anders als mit den Facetten eines Spiegels: Solange kein Licht da ist, bleibt der Spiegel dunkel, denn ein Spiegel vermag aus sich selbst kein Licht hervorzubringen. Wird aber Licht entzündet, so vermag der Spiegel es vielfach zu reflektieren. Und so ist es auch mit den verschiedenen Facetten unseres Seelenlebens. Wäre da nicht Gottes Evangelium, so könnten wir mit all unserer Vernunft, unserem Gefühl und unserer Willenskraft keinen Funken des Glaubens hervorbringen. Da Gott aber das Licht des Evangeliums entzündet hat, kann die Seele eines Menschen dieses Licht widerspiegeln. Das ist ein komplexer Vorgang, weil wir vielschichtige Wesen sind: In unserem Willen spiegelt sich das Licht des Evangeliums anders als im Gefühl und in unserem Verstand bringt dieses Licht andere Reflexe hervor als im Gewissen. Und doch: Weil es eine Lichtquelle ist, die den ganzen Spiegel erleuchtet, ergibt sich aus dem Funkeln vieler Facetten ein gemeinsames schönes Bild. Das Licht des Evangeliums bringt in unseren Seelen jene Spiegelung hervor, die man Glaube nennt und die aus dem Spiegel – obwohl er in sich selbst kein Licht trägt – ein hell leuchtendes Schmuckstück macht. Das ist tröstlich für alle, die wissen, wie viel Dunkles und Armseliges die menschliche Seele enthält. Denn seit Gott sein Licht entzündet hat, muss diese Armseligkeit nicht das letzte Wort behalten. Wenn sich in unseren Seelen auch nur ein wenig von diesem Licht widerspiegelt, wenn in uns auch nur ein Funke des Glaubens ist, so verleiht uns dieser Glaube eine unzerstörbare Würde: Etwas, was uns in Ewigkeit nicht genommen werden kann.