Das biblische und das moderne Weltbild widersprechen sich nur scheinbar, denn recht verstanden sind es bloß unterschiedliche Zugänge zu ein und derselben Wirklichkeit und einander ergänzende Perspektiven. Dementsprechend stehen auch Wunder nicht im Gegensatz zur Natur, sondern nur im Gegensatz zu dem, was wir über die Natur wissen. Mögen sie im beschränkten Horizont des Menschen „unerklärlich“ scheinen, müssen sie deswegen doch nicht „widernatürlich“ sein. Vielleicht bedient sich Gott der Natur nur auf eine Weise, die wir nicht verstehen.
Rudolf Bultmann war ein berühmter Theologe des vergangenen Jahrhunderts, der dem Wandel der Zeiten gerecht werden wollte. Er sah einen scharfen Gegensatz zwischen dem mythischen Weltbild der Bibel und dem naturwissenschaftlichen Weltbild der Moderne. Er hielt sie nicht für vereinbar. Und er prägte einen Satz, der seither für viele Menschen zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Bultmann sagte nämlich:
„Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheits-fällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“
Bultmann meint, man müsse sich da entscheiden. Denn der moderne Mensch habe von den Wirkzusammenhängen der Natur so viel verstanden, dass ihm eine Rückkehr in die Vorstellungswelt naiver Gläubigkeit nicht mehr zugemutet werden könne. Er begegne in seinem Alltag keinen Engeln oder Dämonen! Und er erlebe auch keine übernatürlichen Eingriffe Gottes in das Weltgeschehen. Darum klinge ihm das alles nach Kindermärchen, Spuk und Aberglaube. Die biblischen Wunder widersprechen den Naturgesetzen. Und das heißt: Zwei Modelle der Welterklärung geraten in Konkurrenz zueinander. Nur eins von beiden könne richtig sein, meint Bultmann. Und – vor diese Alternative gestellt – entscheide sich der moderne Mensch, der Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments den Abschied zu geben. Bultmann hält das für unvermeidlich und zieht daraus weitreichende Konsequenzen. Aber stimmen die Voraussetzungen, von denen er ausgeht? Wenn ich elektrisches Licht benutze, unterstelle ich, dass bestimmte physikalische Prozesse zuverlässig funktionieren und immer wieder die gewünschte Wirkung hervorbringen. Soviel ist richtig. Aber ist damit schon entschieden, dass Prozesse anderer Art keine Wirkungen haben? Folgt aus dem Funktionieren der Physik, dass nur die Physik funktioniert – und sonst nichts? Wenn ich medizinische Behandlung in Anspruch nehme und Tabletten schlucke, unterstelle ich, dass dies ein Weg zur Heilung sein kann. Das stimmt! Aber setze ich damit schon voraus, Tabletten seien der einzig denkbare Weg zur Heilung – und andere Wege könne es keinesfalls geben? Meines Erachtens klafft hier eine logische Lücke. Denn man kann sehr wohl Radio hören – und trotzdem an Wunder glauben. Man kann mit dem Gewöhnlichen rechnen – und trotzdem das Außergewöhnliche für möglich halten. Das widerspricht sich keineswegs. Denn nur weil ich selbst nicht über Wasser gehen kann, ist nicht ausgeschlossen, dass Jesus es konnte. Wenn man das erste anerkennt, folgt nicht, dass man das zweite ablehnen muss. Und das heißt: Bultmann baut eine Alternative auf, die es gar nicht gibt. Wenn ich dankbar anerkenne, dass in der Welt physikalische Gesetze wirken, besagt das noch nicht, dass nur sie allein wirken. Und wer die naturwissenschaftliche Sicht der Welt als zutreffend anerkennt, muss deswegen nicht ausschließen, dass über dieselbe Welt aus anderer Perspektive noch ganz anderes zu sagen ist, das ebenso wahr ist. Die folgende Grafik kann das auf simple Weise illustrieren:
Dargestellt sind jeweils eine Lichtquelle, ein Gegenstand und eine Leinwand, auf die der Schatten des Gegenstandes projiziert wird. Und obwohl der Gegenstand immer derselbe ist – er wird einfach nur gedreht und in verschiedenen Positionen vor die Lichtquelle gehalten – ergeben sich auf der Leinwand völlig verschiedene Schattenbilder. Wer nur die Schattenbilder sehen könnte, würde nicht vermuten, dass sie vom selben Gegenstand herrühren. Im Gegenteil: Er würde das wohl spontan ausschließen, weil die Bilder so stark voneinander abweichen! Und doch ist keines der Bilder „richtiger“ oder „falscher“ als die anderen, sondern alle sind „richtig“, insofern sie den zweidimensionalen Umriss des dreidimensionalen Gegenstandes korrekt wiedergeben. Die großen Unterschiede entstehen allein aus der jeweiligen Perspektive. Und darum wäre es abwegig, wenn jemand die drei in Alternative stellen wollte und behauptete, wenn der erste Schattenriss „richtig“ sei, müssten der zweite und der dritte als „falsch“ verworfen werden.
Das bedeutet keineswegs, dass es beliebig viele „richtige“ Perspektiven und Schattenrisse gäbe. Wie immer man jenen Gegenstand vor der Lichtquelle drehen mag – es würde sich als Schattenriss z.B. nie ein Dreieck ergeben! Von den hier gezeigten Schattenrissen ist aber keiner „wahrer“ als die anderen – und wer nur zwei davon gelten ließe, würde damit wesentliche Informationen über den Gegenstand ignorieren und unterschlagen…
Nehmen wir nun an, der merkwürdige dreidimensionale Gegenstand sei die Wirklichkeit, in der wir leben, und diese Wirklichkeit werde in den Naturwissen-schaften von einer Seite beleuchtet, in den Geisteswissenschaften von einer anderen, und in der Religion von einer dritten Seite. Die auf der „Leinwand“ unseres Bewusstseins entstehenden Schattenbilder (=Weltbilder!) würden bestimmt stark voneinander abweichen, und mancher Betrachter würde wohl urteilen, dass sie einander ausschließen und einander widersprechen, so dass man sich für eines davon entscheiden müsse. Tatsächlich ist es aber ein und dieselbe Wirklichkeit, die Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft und Religion nur aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Auch hier gilt, dass es nicht beliebig viele „richtige“ Sichtweisen gibt. Denn manche schließen sich gegenseitig aus, so dass sie nicht gleichzeitig wahr sein können. Und es gibt „Weltbilder“, die falsch sind, weil sie sich zur Welt verhalten, wie das Dreieck zum oben dargestellten Gegenstand! Doch von denen, die vereinbar und wahr sind, ist keines verzichtbar, denn die korrekteste und umfassendste Kenntnis der Wirklichkeit hat, wer den Gegenstand von möglichst vielen Seiten kennt und (statt eine Betrachtungsweise auszuschließen) den Erkenntnisgewinn aller Einzelperspektiven zu einem Gesamtbild addiert.
Hat man sich das klar gemacht, ist leicht zu verstehen, warum von vielen Glaubens-gegenständen gesagt wird, sie seien „zugleich“ dies und das – ohne dass dabei ein Widerspruch entstünde:
- Das Brot des Abendmahls ist in naturwissenschaftlicher Betrachtung nichts als Brot. Der Glaube erkennt darin aber zugleich den Leib Christi. Die naturwissenschaftliche Sicht ist deswegen nicht falsch und muss von Glauben her auch nicht bestritten werden. Aber sie erfasst den Gegenstand unvollständig und bedarf der Ergänzung, weil in dem Brot zugleich Christus real und leiblich präsent ist.
- Jesus von Nazareth war in biologischer Hinsicht ein Mensch aus Fleisch und Blut. Eine ärztliche Untersuchung hätte an ihm wohl nichts Ungewöhnliches feststellen können. Der Glaube erkennt in ihm aber zugleich den ewigen Sohn Gottes. Die biologische Beschreibung seiner Person ist deshalb nicht falsch. Aber ganz verstanden ist Christus eben nur als „wahrer Gott“ und „wahrer Mensch“, dessen Menschheit zu seiner Gottheit durchaus nicht in Konkurrenz steht.
- Die Bibel ist in geisteswissenschaftlicher Perspektive ein Produkt antiker Literaturgeschichte und menschlicher Schriftstellerei. Der Glaube erkennt in ihr aber zugleich Gottes ewiges Wort. Was historische Untersuchungen über die Arbeit der menschlichen Autoren zu Tage fördern, ist darum nicht falsch. Aber das Wichtigste an der Bibel – dass nämlich Gott durch sie redet! – erschließt sich nicht der literarischen Analyse, sondern nur dem Glauben.
An vielen weiteren Beispielen könnte man das durchspielen und immer wieder zeigen, dass religiöses Erkennen dem natürlichen Erkennen nicht widerspricht, auch wenn es weit darüber hinausgeht und es durch Einsichten ergänzt, die dem natürlichen Erkennen nicht zugänglich sind. Damit ist der Anspruch verbunden, dass entscheidende Teile der Wirklichkeit unverstanden bleiben, wenn man die Perspektive des Glaubens ignoriert. Aber so wenig wie die obigen Schattenbilder in Konkurrenz zueinander stehen, so wenig will der Glaube eine Konkurrenz zur natürlichen Erkenntnis sein. Er kann sie nicht ersetzen – und sie ihn nicht! Darum sind Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft und Glaube keine Alternativen, zwischen denen man sich entscheiden müsste, sondern unterschiedliche Zugänge zu ein und derselben Wirklichkeit.
Freilich: Bewährt sich diese „harmonische“ Verhältnisbestimmung auch im Falle der biblischen Wunder? Scheint es nicht doch auf einen Konflikt hinauszulaufen, wenn Gott Naturgesetze durchbricht, den kausalen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen zerreißt, das Meer teilt, die Sonne stillstehen und das Eisen schwimmen lässt, Tote auferweckt und Wasser in Wein verwandelt? Kommen sich da Physik und Religion nicht doch in die Quere? Da scheint es, als würde das naturwissenschaftliche Weltbild durch die Wunder nicht nur gestört, sondern zerstört, nicht nur ergänzt, sondern aufgehoben! Es scheint als handle Gott gegen die verlässlichen Ordnungen, die er selbst geschaffen hat. Doch urteilen wir nicht zu schnell. Augustin sagt: „Wunder stehen nicht im Gegensatz zur Natur, sondern nur im Gegensatz zu dem, was wir über die Natur wissen.“ Und diesem Hinweis folgend möchte ich versuchen, Wunder als etwas zu begreifen, das nicht gegen den uns bekannten Naturzusammenhang verstößt, sondern nur über ihn hinausgeht. Wie könnte so ein „Hinausgehen“ aussehen?
Um die Sache zu verdeutlichen, will ich von einem englischen Schriftsteller namens Edwin Abbott erzählen. Der hat im 19. Jh. einen lustigen Roman geschrieben, der „Flächenland“ heißt. Und die Hauptperson darin ist ein Quadrat. Das „Flächenland“ muss man sich – wie der Name schon sagt – als eine zweidimensionale Welt vorstellen, die topfeben und flach ist wie ein großes Blatt Papier. Es gibt da zwar Breite und Länge – aber nichts in dieser Welt hat eine Höhe. Und die Bewohner sind darum völlig flache geometrische Figuren. Frauen sind in „Flachland“ einfach nur Linien. Arbeiter, Soldaten und Kaufleute sind Dreiecke. Darüber stehen die Gelehrten, die immerhin die Form von Vier- oder Fünfecken haben. Wer mehr als fünf Ecken hat, gehört schon zum Adel. Und am angesehensten sind die Priester, denn das sind Kreise. Man sieht, dass zwei Dimensionen genügen, um große Vielfalt zu ermöglichen. Und wenn man die dritte Dimension gar nicht kennt, vermisst man sie auch nicht. Interessant wird die Geschichte als das Quadrat, die Hauptperson der Erzählung, das „Linienland“ besucht. Denn dieses Linienland hat – wie der Name sagt – nur eine Dimension. Da gibt es nur Länge, und keine Breite. Die Bewohner des Linienlandes sind darum ausschließlich (mehr oder weniger lange) Linien. Sie haben die Form eines Striches. Sie sind Strecken auf einer Geraden. Und nicht mal eine Krümmung können sie sich vorstellen, denn für eine krumme Linie braucht man ja schon eine zweite Dimension. So etwas kennt man nicht im Linienland. Es erscheint den Bewohnern auch völlig undenkbar. Ein lächerliches Märchen! Und so kann das Quadrat niemand davon überzeugen, dass der Raum noch eine weitere Dimension hat. Das geht völlig über den Horizont der Linien – und das Quadrat staunt sehr über ihre geistige Beschränktheit. Nachdenklich kehrt es in seine zweidimensionale Welt zurück, zu den Dreiecken, Vierecken und Kreisen. Und dort herrscht Normalität – bis das Quadrat eines Tages einer Kugel begegnet. Nun gehört eine Kugel nicht wirklich ins „Flächenland“ – sie ist dort nur zu Gast, denn eine Kugel ist natürlich dreidimensional und wirkt ziemlich fremd. Auch für unseren Romanhelden, das Quadrat, sind Höhe und Tiefe der Kugel erst mal nur gewagte Behauptungen. Sie überschreiten seine Vorstellungskraft und wirken absurd. Aber irgendwann gelingt es der Kugel, das Quadrat zu überzeugen. Sie machen gemeinsam einen Rundflug über das Flächenland. Und beinahe wäre daraus eine Freundschaft entstanden. Doch das Quadrat, von der dritten Dimension endlich überzeugt, kommt auf die wilde Idee, es könne dann doch auch noch eine vierte und eine fünfte Dimension geben, von der selbst die Kugel nichts ahnt! – und darüber zerstreiten sich die beiden. Zuletzt versucht das Quadrat den Einwohner von „Flächenland“ seine Einsichten zu vermitteln. Aber die wollen von weiteren Dimensionen nichts wissen, halten das Quadrat für einen gefährlichen Spinner und sperren es ein.
Nun – was trägt das bei zur Frage der biblischen Wunder? Ich meine jener Roman führt uns vor Augen, warum wir manche Dinge verstehen – und andere nicht verstehen, die wir dann „Wunder“ nennen. Es ist lehrreich, sich als Bewohner einer dreidimensionalen Welt versuchsweise in die Weltsicht derer hineinzuversetzen, die nur zwei Dimensionen kennen, und sich dann zu fragen, was man in deren Situation verständlich, vernünftig und realistisch fände. Denn die Antwort liegt auf der Hand: Für die Bewohner einer zweidimensionalen Welt ist immer nur verständlich, was sich auf der Fläche abspielt und aus der Fläche zu erklären ist. Da versteht man einen Punkt, versteht genauso eine Linie, die von rechts oder links kommt, man versteht auch die Krümmung des Kreises und die Spitze des Dreiecks. Jeder Strich ist erklärlich, weil man auf den Fläche sieht, woher und wohin er verläuft. Aber stellen Sie sich vor, jemand würde von oben durch die zweidimensionale Fläche einen Nagel schlagen, der aus der Höhe kommend ein Loch in die Fläche macht und unten wieder in die Tiefe herausragt. Wäre die Entstehung dieses Loches für die Flachland-bewohner nicht ein absurdes und unerklärliches Geschehen? Natürlich wäre es das! Denn da der Nagel weder von vorn noch von hinten, weder von links noch rechts kommt, kommt er für zweidimensionale Wesen buchstäblich aus dem „Nichts“. Er ist aus dem, was sie kennen, in keiner Weise herzuleiten oder zu erklären. Er ist ein Phänomen, für das die Flachländer weder einen Grund, noch eine Ursache oder ein Ziel angeben könnten. Jene, die den Einschlagsort des Nagels gesehen haben, würden vielleicht von einem Wunder sprechen. Andere aber würden sie verspotten und würden darauf bestehen, es müsse sich im zweidimensionalen Raum für alles eine „natürliche“ (nämlich: zweidimensionale!) Erklärung finden lassen. Die Flachlandbewohner stünden vor einem Rätsel und könnten darüber leicht in Streit geraten! Wir aber, die wir die dritte Dimension des Raums kennen, finden nichts Rätselhaftes dabei, wenn ein Nagel eine Fläche durchdringt, denn wir sehen sein Woher und sein Wohin, sehen den Grund und das Ziel, und wissen auch, dass dabei die Naturgesetze nicht aus den Angeln gehoben werden. Wer die dritte Dimension einbezieht, versteht den Vorgang leicht. Und doch hat er nach dem gedanklichen Experiment Verständnis für die Flachlandbewohner: Er begreift, warum sie nicht begreifen, und ihr Unverständnis ist ihm verständlich geworden, denn die Wirklichkeit ist einfach um eine Dimension reicher, als sie es ahnen.
Nun fühlen wir uns vielleicht privilegiert, weil wir die dritte Dimension kennen. Aber könnte es nicht sein, dass auch wir – auf unserer höheren Ebene – unter Einschränkungen leiden, die denen der Flachländer ähnlich sind? Könnte es über die uns geläufigen drei oder vier Dimensionen hinaus nicht noch weitere geben? Naturwissenschaftler rechnen schon lange mit einer Vielzahl weiterer Dimensionen! Wenn das aber so ist – muss dann das, was uns heute „unerklärlich“ scheint wie ein Wunder, auch zwangsläufig „widernatürlich“ sein? Keineswegs! Denn wenn jener Roman zeigt, dass sich Ereignisse, die in einer zweidimensionalen Welt „unerklärlich“ scheinen, problemlos als Einwirkungen einer dritten Dimension verstehen lassen – wieso sollen dann Ereignisse, die in unserer dreidimensionalen Welt „unerklärlich“ scheinen, nicht aus höheren Dimensionen herrühren, die uns einfach nur nicht zugänglich sind? Wir würden sie gewiss Wunder nennen, weil sie sich aus dem, was wir von der Wirklichkeit begreifen, nicht ableiten lassen. Und doch würden durch sie weder Naturgesetze noch Kausalzusammenhänge aufgehoben. Mein Vorschlag ist darum, Gottes Wunder in dieser Weise zu verstehen: Wenn Gott handelt, hat er es nicht nötig, die natürliche Ordnung gewaltsam zu durchbrechen, die er doch selbst gut und verlässlich geschaffen hat, sondern er muss sich der Natur nur auf eine Weise bedienen, die wir nicht verstehen. Und damit zu rechnen, dass der Schöpfer so etwas kann, ist nicht irrational, sondern naheliegend, denn es bedeutet ja nur, dass die Welt reicher ist, als der Teil, den wir von ihr erfassen. Wenn die Bewohner des „Flächenlandes“ sich keine Kugel vorstellen können, bedeutet das nicht, dass es keine Kugeln gäbe, sondern nur, dass die Grenzen der Wirklichkeit nicht mit den Grenzen ihres Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögens identisch sind. Und von uns Menschen gilt ganz dasselbe: Wo unser Horizont endet, müssen Gottes Möglichkeiten noch lange nicht enden. Darum verlangt biblischer Glaube nicht etwa, dass wir die Naturgesetze leugnen, die wir verstanden haben, sondern verlangt lediglich, dass wir sie nicht schon für das Ganze halten. Wenn’s aber nur das ist, warum sollte man dann an den biblischen Wundern Anstoß nehmen? Kann denn etwas nicht wirklich sein, bloß weil ich nicht begreife, wie es möglich ist? Das wäre eine recht anmaßende Haltung. Und ich für meinen Teil will lieber Bescheidenheit üben. Denn immer wenn ich mir klug vorkomme, fällt mir jener Dackel ein, von dem ein längst verstorbener Professor erzählte:
Stellen Sie sich bitte einen Garten vor, der von hohen Mauern umgeben ist, und darin eine Rasenfläche, auf der ein kurzbeiniger, alter Dackel spazieren geht. Der Dackel ist kurzsichtig. Er sieht eigentlich nur, was sich am Boden abspielt – er lebt sozusagen in der zweidimensionalen Welt der Rasenfläche. Wenn nun eine Taube über die Mauer in den Garten fliegt und vor der Nase des Dackels im Gras landet, kommt sie für den Hund quasi aus dem Nichts. Er will spielen und läuft neugierig auf sie zu, die Taube aber läuft vor ihm weg. Der Hund folgt, die Taube trippelt weiter, und der Hund beginnt zu rennen. Wegen der Mauer fühlt sich die Taube nun in die Enge getrieben, öffnet ihre Flügel und entkommt flatternd in die dritte Dimension. Der kurzbeinige Dackel aber steht ratlos vor der Mauer, sucht die Taube, und versteht nicht, was geschehen ist, denn für ihn ist die Mauer unüberwindlich. Unter der Voraussetzung von nur zwei räumlichen Dimensionen ist die Taube genauso unerklärlich verschwunden, wie sie unerklärlich kam. Der Dackel kann dem geistig genausowenig folgen, wie der Taube physisch. Für ihn ist das Ganze ein Wunder. Für den Zuschauer ist aber gar kein Wunder dabei, und kein Naturgesetz wurde in Frage gestellt, sondern die Taube hat sich dieser Gesetze nur auf eine Weise bedient, die ein alt gewordener Hund nicht versteht…
Nun: Wenn sich die Sache mit uns und Gottes großen Taten genauso verhielte? Ich meine, dass wir tatsächlich in der Rolle des Dackels sind und einen beschränkten Horizont haben. Und was die Bibel „Wunder“ nennt, ist für Gott so normal wie für eine Taube das Fliegen und Landen. Gott bewegt sich in Dimensionen, die wir nicht „auf dem Schirm“ haben. Er hat sie schließlich allesamt geschaffen! Und ihm diesbezüglich jede Freiheit zuzutrauen, ist darum nicht „irrational“, sondern vernünftig. Der alte Dackel steht nur deshalb verwirrt vor der Mauer, weil er annimmt, dass niemand kann, was er nicht kann. Er meint, die Grenzen seiner Möglichkeiten, müssten auch für die Taube gelten. Aber ist das etwa „rational“? Ist nicht gerade das „beschränkt“, wenn ich von mir auf andere – oder sogar auf Gott schließe?
Falls sie sich fragen, was ich mit alledem sagen wollte, kann ich es ganz einfach zusammenfassen: Ich wollte nur denen widersprechen, die immer behaupten, es sei für moderne und nachdenkliche Menschen ungeheuer schwer, an Wunder zu glauben. Denn das stimmt nicht. In Wahrheit ist es nur schwer, wenn man nicht genug nachgedacht hat – über die Grenzen des eigenen Verstandes.